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19 / 1 / 2020 Erfahrung

Erfahrung

Francesco Casetti
Die Explosion des Kinos.
Filmische Erfahrung in der
post-kinematographischen Epoche
(PDF 142 kB)

Volker Pantenburg
Migrational Aesthetics.
Zur Erfahrung in Kino und Museum
(PDF 116 kB)

Thomas Morsch
Filmische Erfahrung im Spannungsfeld
zwischen Körper, Sinnlichkeit und Ästhetik
(PDF 130 kB)

Adriano D’Aloia
Edith Stein geht ins Kino.
Empathie als Filmtheorie
(PDF 163 kB)

Ramón Reichert
Die Entregelung der Sinne.
Eine Theorieperspektive zur Filmphänomenologie
(PDF 100 kB)

Annette Kuhn
Was tun mit der Kinoerinnerung? (PDF 165 kB)

Patrick Vonderau
Brünett bevorzugt.
‹Erfahrung› in der Zuschauerforschung Hollywoods
(PDF 183 kB)

Heide Schlüpmann
Das Aufklärungsversprechen des Kinos
oder: Die Ablösung der Metaphysik durch die Medien
(PDF 91 kB)

Editorial:
Die Filmtheorie auf der Suche nach dem Ort der Erfahrung

I was talking to a guy who commutes every day between New
York and New Jersey. He props up his laptop on the front seat
so he can watch DVDs while he’s driving. »I only do it in traffic,“
he said. »It’s no big deal.“ Beyond the obvious safety issues,
why does anyone want, or need, to be talking constantly on the
phone or watching movies (or texting) while driving? I hate to
sound so 20th century, but what’s wrong with just listening to
the radio? The blessed wonders of technology are overwhelming
us. We don’t control them; they control us.
(Bob Herbert, New York Times,16. Juli 2010)

Gibt es eine Erfahrung des Kinos? Oder anders gefragt: Gibt es Merkmale des Objekts Film, die sich in einer spezifischen Form der ästhetischen Erfahrung niederschlagen? Und lässt sich das, was den Film als Gegenstand ausmacht, über diesen Erfahrungstyp erschließen?

Das Ansinnen, das Spezifische des Films über die Dimension der Erfahrung zu erschließen, ist nicht neu; man bedenke nur die lange Reihe von Versuchen, des Films aus phänomenologischer oder reflexionsästhetischer Sicht habhaft zu werden, die von Merleau-Pontys Aufsatz über das Kino über Bazin bis zu den Arbeiten von Vivian Sobchack und die daran anschließenden neueren Untersuchungen zur Taktilität und Körperlichkeit des Films reicht.1 Wenn aber die Frage nach der Erfahrung in der filmtheoretischen Debatte jetzt wieder an Virulenz gewinnt, dann nicht zuletzt deshalb, weil die Eigenständigkeit des Films als Gegenstand des Wissens und der Erkenntnis gerade – man ist versucht zu sagen: wieder einmal – auf dem Spiel steht.

Die Frage «Was ist Kino?» wurde in den Anfängen der filmtheoretischen Reflexion bekanntlich zunächst als philosophisch-ästhetische Frage gestellt. Wenn Georg Lukács in einem Text aus dem Jahr 1911 unter dem Titel «Zu einer Ästhetik des Kino» festhält, dass mit dem Film etwas Neues in die Welt getreten ist, dann suchte er noch nach dem Platz dieses Neuen im etablierten System der Künste. Schon Walter Benjamin aber formulierte die Frage «Kann Film Kunst sein?» 1936 im Kunstwerkaufsatz zur Frage «Was ist Kunst überhaupt noch unter den Bedingungen des Films?»; und wenn André Bazin in den 1950er Jahren die Frage «Was ist Kino?» noch einmal neu stellte, dann ging es ihm längst nicht mehr um das System der Künste und den Platz, den es für den Film bereit hält. Vielmehr wollte er dem Film seinen Status als Gegenstand eigener Ordnung zusichern, der eine eigene Form des Nachdenkens erfordert, wobei die Bestimmung seiner Spezifik bei Bazin, flankiert von den Begriffen ‹Werk› und ‹Autor›, auf die Phänomenologie ebenso aufbaute wie auf Einsichten der Psychoanalyse und damit Etappen und Entwicklungen der späteren Filmwissenschaft schon im Kern enthielt.

Nicht im Zweifel war die Filmtheorie aber darüber, was ihr Gegenstand war. Ob man nach dem Platz des Films in den etablierten Ordnungen des Denkens forschte oder ihm einen eigenen produktiven theoretischen Rahmen zu verpassen versuchte: Von Lukács bis zur Apparatus- Theorie der 1970er herrschte stets Einigkeit darüber, dass es sich bei dem Gegenstand des Wissens, um den sich die Denkanstrengung drehte, um das Bewegungsbild auf der Leinwand handelte, vorgeführt in einem abgedunkelten, eigens dafür hergerichteten Raum, vor einem Publikum, das sich für einen Moment des geteilten Erlebens in dieser bedeutsamen Subsphäre der modernen Öffentlichkeit zusammengefunden hatte. Die erste Antwort auf die Frage «Was ist Kino?» lautet mithin immer schon: Kino ist Film im Kino, und Filmtheorie ist die Theorie, die erklären soll, weshalb wir ins Kino gehen und was der Film im Kino macht, mit uns, dem Publikum, mit der Welt, mit dem Raum des Kinos.

Gerade diese Gewissheit ist der Filmtheorie aber mittlerweile abhanden gekommen. Folgte auf die ontophänomenologische Phase im Zeichen der Frage «Was ist Kino?» in den späten 1970er Jahren unter anderem die New Film History mit ihrer Frage «Wann ist Kino?», so kreist die filmtheoretische Debatte mittlerweile, wie Malte Hagener (2008) jüngst festhielt, um die Frage «Wo ist Kino?». Im Zuge der Verbreitung portabler und mobiler digitaler Medien sind Filmbilder allgegenwärtig geworden: Zu jeder Zeit und an jedem Ort können wir nicht nur telefonieren, Zeitungen oder Blogs lesen, sondern auch Filme sehen, sogar im Auto auf dem Weg zur Arbeit. Wir sind, wie der Kurator und Direktor des Österreichischen Filmmuseums Alexander Horwath es formuliert, in einer «postkinematographischen Bedingung» angekommen. 2 Filmbilder umgeben uns in einem solchen Maß, dass die Frage nach dem Ort des Films mittlerweile mit einer deleuzianischen Formel des Typs «Wir sind im Bild» beantwortet werden kann, wie die Amsterdamer Filmwissenschaftlerin Patricia Pisters vorschlägt.3

In diesem Zustand der «Medienimmanenz» (Hagener) wird aber auch der Status des Erkenntnisgegenstandes ‹Kino› prekär. Ein Theoretiker wie Raymond Bellour, dessen Reflexion über den Film in einer Cinéphilie gründet, die man durchaus ‹klassisch› nennen kann, verteidigt gegenüber der Zirkulation von Filmbildern außerhalb des Kinos ein «absolutes Privileg des Dispositivs Kino»:4 Nur im Raum des Kinos und unter den Bedingungen, bei denen die Filmtheorie ursprünglich ansetzte, kann der Film jene Erfahrungsdimensionen entfalten, die seine Spezifik ausmachen. Nachgerade die Gegenposition dazu vertreten jüngere Forscher wie Alexandra Schneider, für welche die Aufführung im Kino weder in ästhetischer noch in historischer Perspektive die Norm sein kann, an der sich die Filmtheorie zu orientieren hat; vielmehr, so Schneider (2008), gelte es, ‹Kino› als eine historische Formation zu verstehen, die in einer Geschichte der Zirkulation von Filmbildern neben anderen wie der Aufführung in privaten Räumen oder als Teil eines Reiseerlebnisses in Flugzeugen oder Schiffen zu behandeln ist. Und mehr und mehr, so ist anzufügen, gilt es den Film auch im Zusammenhang mit den anderen «blessed wonders of technology» zu denken, zumal wenn man die Möglichkeit bedenkt, von der Bob Herbert im Eingangszitat schreibt, dass sie uns kontrollieren und nicht wir sie.

Wenn der Begriff der Erfahrung neuerdings wieder Konjunktur hat, dann auch als Ausdruck der Spannung, die sich zwischen solchen auseinanderstrebenden Positionen im Feld des Nachdenkens über Film und Kino auftut. Fast wie immer in der Geschichte der Filmtheorie steht die Reflexion der Erfahrung auch diesmal im Zeichen eines Bestrebens, den Gegenstand dingfest zu machen. Auf dem Spiel steht dabei heute weniger als in der phänomenologischen Phase seine schiere ästhetische Komplexität, derer man sich im Medium der unmittelbaren Erfahrung versichern und die man durch die reflexive Herstellung eines unverstellten Zugangs durchdringen wollte. Auf dem Spiel steht vielmehr zunächst – und in gewisser Weise noch grundlegender – der Ort des Films, seine konkrete Topologie im Zeichen dessen, was Francesco Casetti (2009) mit dem Begriff der «relocation» zu fassen versucht.

Nun ist der Begriff der Erfahrung oder der experience, wie es im Englischen und im Französischen heißt, vielschichtig, und er ist auch nur bedingt trennscharf zu definieren, wie unter anderem Martin Jay (2005) aufzeigt, wenn er in seiner umfangreichen Studie zum philosophischen Erfahrungsproblem Schicht um Schicht der historisch gewachsenen Bedeutungen des Begriffs abträgt. Gerade aus begriffsgeschichtlicher Sicht aber scheint der Erfahrungsbegriff der Aufgabe, die ihm derzeit von der Filmtheorie zugedacht wird, durchaus gewachsen zu sein. Zum einen führt er im Deutschen immer schon ein Element von Erforschung und Untersuchung mit sich – nicht von ungefähr spricht man davon, etwas «in Erfahrung zu bringen». Ferner verweist der Begriff in seinem philosophischen Verständnis, wie Reinhart Koselleck aufzeigt, spätestens seit Kant zugleich auf die Wirklichkeit und ihre Erkenntnis. Erkenntnis fängt mit Erfahrung an, «aber die Erfahrung ist wiederum auf Urteilsbildung und Begriffe angewiesen, um überhaupt gemacht werden zu können» (Koselleck 2003, 29). Dieser epistemischen und kognitiven Dimension gesellt sich im Erfahrungsbegriff schließlich auch noch eine räumliche hinzu: Erfahrung meint das zeitliche wie räumliche Erschließen eines Gegenstandes.

Wie aber nun die Erfahrung des Films unter den Bedingungen von Medienimmanenz, relocation und Ubiquität des Filmbildes bestimmen? Auf diese Frage geben die Autoren dieser Nummer unterschiedliche Antworten.

In seinem Eröffnungsbeitrag entwirft Francesco Casetti unter dem Titel «Die Explosion des Kinos. Filmische Erfahrung in der postkinematographischen Epoche» eine historische Typologie der Filmerfahrung und fokussiert dabei neben den spezifischen Erkenntnispotenzialen filmischer Erfahrung einen großen Umbruch von der klassischen attendance zur zeitgenössischen performance, die den Zuschauer vom bloßen Teilnehmer an einer Aufführung zum Ausführenden eines Programms macht.

Für die Wanderschaften des Filmbilds aus dem Kino in den nicht minder vielschichtig regulierten Erfahrungsraum des Museums interessiert sich Volker Pantenburg in seinem Text «Migrational Aesthetics. Zur Erfahrung in Kino und Museum». Dabei ist es ihm in theoretischer Hinsicht nicht zuletzt darum zu tun, die implizit wertenden Dichotomien einer Reflexionsästhetik zu überwinden, die auf die vermeintlich disziplinierenden Wirkungen des Kino-Dispositivs abhebt und im Raum des Museums primär einen Raum der Emanzipation des Zuschauers und der erhöhten Reflexion der ästhetischen Potenziale bewegter Bilder erkennen will.

In seinem Beitrag «Filmische Erfahrung im Spannungsfeld zwischen Körper, Sinnlichkeit und Ästhetik» erprobt Thomas Morsch die Tragfähigkeit des Erfahrungsbegriffs für eine Kinoästhetik, die an Sinnlichkeit und Körperlichkeit orientiert ist. Dabei interessiert ihn namentlich auch die Dimension des Affekts, den er von Deleuze her denkt, was ihn die phänomenologische Anmutung des Begriffs besonders kritisch sehen lässt.

Adriano D’Aloia beschäftigt sich in seinem Artikel «Edith Stein geht ins Kino. Empathie als Filmtheorie» mit der Frage, wie Andersheit im besonderen Fall der filmischen Erfahrung funktioniert. Als Grundlage seiner Überlegungen nimmt er Edith Steins Theorie der Einfühlung aus dem Jahre 1917 und zeigt die Relevanz dieser phänomenologischen Gedanken für die Erklärung von Empathie auf. So erklärt, besitze das Kino die Fähigkeit, den Zuschauer Teil einer «lebendigen/ körperlichen Beziehung» werden zu lassen, die ihn auf ein Terrain der intersubjektiven Vermittlung führt.

Ramón Reichert greift in seinem Beitrag «Die Entregelung der Sinne. Eine Theorieperspektive zur Filmphänomenologie» auf die Arbeiten des Bochumer Phänomenologen Bernhard Waldenfels zurück, um das Thema der Andersheit in den Kern der Filmerfahrung selbst einzutragen: Während auch in neueren Ansätzen der Filmphänomenologie (namentlich bei Vivian Sobchack) letztlich ein Denken der Unmittelbarkeit körperlicher Erfahrung den Horizont der Reflexion bildet, kommt es Reichert darauf an, deren inhärente Vermitteltheit und damit so etwas wie die Selbstfremdheit filmischer Erfahrung herauszuarbeiten.

In ihrem Aufsatz «Was tun mit der Kinoerinnerung?» schließt Annette Kuhn die Filmerfahrung im Rahmen eines für die neuere Kinoforschung maßgeblich gewordenen Ansatzes durch eine Erforschung kultureller Gedächtnisformen mit ethnografischen Mitteln auf. Ausgehend von der Feststellung, dass sich die Filmwissenschaft immer mehr in eine empirisch-historische Kinowissenschaft und eine von allen kontingenten Bedingungen der Rezeption abstrahierende Ästhetik des filmischen Bildes ausdifferenziert, umreißt Kuhn die Kinoerinnerung als Ort, an dem diese Divergenzen zumindest teilweise überbrückt werden können

Ins Register der Beobachtung von Beobachtern des Publikums wechselt Patrick Vonderau mit seiner auf neuen Archivrecherchen beruhenden Studie, die untersucht, mit welchen Instrumenten und Begrifflichkeiten die Marktforscher in den 1930er Jahren im Auftrag der Hollywood-Studios der Filmerfahrung habhaft werden wollten. Dabei interessiert er sich besonders für Versuchsanordnungen, die an die quasi-wissenschaftlichen Spektakelformen des 19. Jahrhunderts anzuschließen scheinen und eine Balance zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Publicity suchen.

Den Abschluss des Heftes bildet ein Text von Heide Schlüpmann, der ausgehend von einem Kinoverständnis, das um die gemeinsam erlebte öffentliche Vorführung von Filmen kreist, eine aufklärerische Sinnlichkeit oder eine Aufklärung durch Sinnlichkeit im Sinne Feuerbachs als das Spezifische der Filmerfahrung postuliert. Letztlich ist es Schlüpmann dabei um ein Problem zu tun, das in der gegenwärtigen Entwicklung von Filmwissenschaft und Medienwissenschaft von einiger Bedeutung ist. Anstatt eine Konvergenz der beiden Felder oder Teilfelder voreilig zu dekretieren, fragt Schlüpmann, wie eine Filmwissenschaft, die das Kino in eine – durchaus nicht kontinuierliche – Tradition der Aufklärung stellt, mit einer Medienwissenschaft harmonisierbar sein soll, die Fragen der Ästhetik primär, wenn nicht sogar ausschließlich, auf dem Umweg über die Frage nach der Technik angeht. Auch dies ist, wie Schlüpmann zeigt, eine Frage, die sich am Leitfaden des Nachdenkens über das Erfahrungsproblem angehen lässt.

Vinzenz Hediger

Literatur

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