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19 / 2 / 2010 Filmologie / Soziologie

Filmologie/Soziologie

Guido Kirsten
«Tout film est un document social».
Zum prekären Verhältnis von Filmologie und Kinosoziologie
(PDF 109 kB)

Georges Friedmann / Edgar Morin
Soziologie des Kinos (PDF 130 kB)

Edgar Morin
Forschungen zum Kinopublikum (PDF 118 kB)

Edgar Morin
Das Problem der gefährlichen Auswirkungen des Kinos (PDF 120 kB)

Edgar Morin
Das Kino aus soziologischer Sicht (PDF 103 kB)

Siegfried Kracauer
Nationalcharaktere – wie Hollywood sie zeigt (PDF 102 kB)

Leonardo Quaresima
Falsche Freunde: Kracauer und die Filmologie (PDF 122 kB)

Philippe Gauthier
«Fernseh-Revolution» und Filmerfahrung
in der Revue internationale de filmologie
(PDF 108 kB)

Franziska Heller / Barbara Flückiger
Zur Wertigkeit von Filmen.
Retrodigitalisierung und Filmwissenschaft
(PDF 99 kB)

Claus Tieber / Hans J. Wulff
Pragmatische Filmmusikforschung:
Vom Text zum Prozess
(PDF 96 kB)

Christa Blümlinger
Im Dickicht der Film-Wörter:
Zu Serge Daneys Begrifflichkeit
(PDF 123 kB)

Editorial

«Filmologie. Die wissenschaftliche Untersuchung des Films. Die Filmologie hat einen psychologischen Zweig, der die Wirkung des Films auf die Zuschauer untersucht; in diesem werden Beobachtungen, Statistiken und Experimente eingesetzt [...]. In ihrem soziologischen Zweig, der vor allem von statistischen Untersuchungen ausgeht, wird die gesellschaftliche Funktion des Films erforscht, seine sozialen Auswirkungen, die Reaktionen des Publikums in Abhängigkeit von seiner sozialen Herkunft etc. Sie hat einen historischen Zweig, da der Film oft reale historische Ereignisse widerspiegelt und als selbst historisches Objekt Zeugnis von seiner Epoche ablegt. Schließlich hat sie einen ästhetischen Zweig, der seit langem Gegenstand von Forschung und Lehre ist (so wurden in den Jahren zwischen 1945 und 1950 die Revue internationale de filmologie und das Institut für Filmologie an der Universität Paris gegründet, womit die Existenz der bereits entwickelten filmologischen Untersuchungen anerkannt wurde)» [Übers. GK].

So lautet der erste Teil eines Lexikoneintrags von Anne Souriau im von ihrem Vater Etienne Souriau betreuten, nach seinem Tod von ihr herausgegebenen Vocabulaire d’esthétique (Paris: PUF 1990). Auch wenn sich der Begriff ‹Filmologie› hier nicht nur auf die im engeren Sinn filmologischen Arbeiten bezieht, sondern auch auf historisch ältere und jüngere Filmwissenschaft, legt der Eintrag doch Zeugnis ab vom interdisziplinären Selbstverständnis des eigentlichen ‹filmologischen› Projekts, an dem Anne Souriau beteiligt war. Neben der – in der Filmologie nur sporadisch adressierten – filmhistorischen Forschung nennt sie deren drei Kernbereiche: Psychologie, Ästhetik und Soziologie. Den psychologischen Studien, die sich in Experimental-, Entwicklungsund Wahrnehmungspsychologie auf der einen und in psychoanalytisch inspirierte Überlegungen auf der anderen Seite differenzieren lassen, hat Montage AV Schwerpunkte in den Heften 12,1 (2003) und 13,1 (2004) gewidmet. Die filmologische Ästhetik war bereits 1997 Gegenstand dieser Zeitschrift mit der Übersetzung von Etienne Souri aus «Struktur des filmischen Universums», einem weiteren Text dieses Autors im Heft 12,1 (2003) und schließlich dem von Souriaus Begrifflichkeit inspirierten Themenheft zum Konzept der Diegese (16,2, 2007).

Im Themenschwerpunkt der vorliegenden Ausgabe widmen wir uns nun dem auf Deutsch bislang nicht zugänglichen Bereich der kinosoziologischen Arbeiten der filmologischen Schule. Als Autoren stehen Siegfried Kracauer und Edgar Morin im Zentrum dieses Arbeitsfeldes. Die nicht immer unproblematische Beziehung zwischen Kracauer und der Filmologie beschreibt Leonardo Quaresima ausführlich in seinem Beitrag. Dokumentiert wird Kracauers Einbindung ins filmologische Projekt mit Auszügen aus einer Studie zur Darstellung von Briten und Russen im Hollywoodfilm, die 1950 in der Revue internationale de filmologie veröffentlicht wurde.

Als wichtigster soziologischer Autor der Filmologie muss aber Edgar Morin gelten, zweifellos einer der einflussreichsten Anthropologen, Soziologen und Politologen des 20. Jahrhunderts. Bevor er mit seinen Büchern Le cinéma ou l’homme imaginaire (1956) und Les stars (1957) zu einer filmtheoretischen Größe wurde, war Morin als junger Mitarbeiter von Georges Friedmann am soziologischen Institut des Centre national de la recherche scientifique beschäftigt. Die Texte, die wir hier zum ersten Mal auf Deutsch präsentieren, dokumentieren seine filmsoziologischen Arbeiten aus dieser Zeit. Sie beschäftigen sich mit allgemeinen methodologischen Fragen sowie dem Versuch, die gesamte Breite der gesellschaftlichen Aspekte des Kinos aufzureißen (im gemeinsam mit Friedmann geschriebenen Aufsatz «Sociologie du cinéma», 1952), außerdem mit Fragen der Publikumssoziologie und den vermeintlichen Gefahren, die das Kino für die Jugend darstellt. In all diesen Texten, besonders aber in «Le cinéma sous l’angle sociologique» (1953) wird auch der autoreflexive Zug von Morins Methode deutlich, die später zu einem Kennzeichen seiner Arbeiten wurde. Sein Gegenstand ist stets ein doppelter: Nicht nur das Kino, sondern auch dessen soziologische Erforschung (ihr Kontext und ihre Methoden) werden zu Objekten der kritischen Befragung. Gleichzeitig deutet sich an vielen Stellen auch der Übergang zu den anthropologischen Positionen seiner beiden Kinobücher an. Die Übersetzungen der frühen Morin-Texte ergänzen also nicht nur die bislang in dieser Zeitschrift zugänglich gemachten Arbeiten der École de filmologie, sondern tragen auch bei zur Rekonstruktion des intellektuellen Werdegangs dieses bedeutenden Theoretikers, dessen Arbeiten die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kino in den 1950er Jahren nicht nur in Frankreich geprägt haben.

Als Ergänzung zum filmologisch-soziologischen Schwerpunkt drucken wir einen Beitrag von Philippe Gauthier, der sich mit der filmologischen Behandlung von Fragen der Filmerfahrung (damit an unser letztes Themenheft «Erfahrung» anschließend) im Zeitalter des Fernsehens beschäftigt. Er beschreibt die Herausforderungen, vor die sich die Filmologen in erfahrungstheoretischer und terminologischer Hinsicht im Moment der sich abzeichnenden «Fernsehrevolution» gestellt sahen, und zieht Parallelen zur heutigen Situation der Filmwissenschaft angesichts der Diversifizierung von Dispositiven des Bewegtbilds.

Auf ganz andere Weise werden die Herausforderungen neuer medialer Bedingungen für die Filmwissenschaft im Beitrag von Franziska Heller und Barbara Flückiger thematisiert. Die Autorinnen stellen das Schweizer Projekt AFRESA (Automatisches System zur Erfassung und Rekonstruktion von Archivfilmen) und dessen Beitrag zur digitalen Restaurierung von historischem Filmmaterial vor. Dabei gehen sie unter anderem der Frage nach, wie sich der historische Wert von Filmen bestimmen lässt und welchen Beitrag die Filmwissenschaft im ökonomisch formierten Kontext der Gegenwart zur Klärung dieser Frage leisten kann.

Einem weiteren Bereich zwischen den Disziplinen widmet sich der Beitrag von Claus Tieber und Hans J. Wulff: der Filmmusik. Die Autoren begreifen Filmmusik als eine der Strategien der Bedeutungserzeugung und die Filmmusikanalyse entsprechend als integralen Teil der Textanalyse. Sie plädieren darüber hinaus dafür, die musikalische Komponente produktionsästhetisch als Teil einer umfassenden «prozessualen Textanalyse» und damit die am Ende gefundene textuelle Form als Ergebnis von kreativen Problemlösungsprozessen sowie zugleich als Ausgangspunkt für die Bedeutungszuweisungen in der Rezeption aufzufassen.

Als Abschluss dieser Ausgabe stellt Christa Blümlingers Text das filmkritische Denken und Schreiben Serge Daneys vor. Sie hält Rückschau auf ihre Übersetzungsarbeit an dem Sammelband ausgewählter Texte Daneys (Von der Welt ins Bild. Augenzeugenberichte eines Cinephilen), den sie vor zehn Jahren herausgegeben hat. Am Beispiel der raffinierten Sprachspiele Daneys macht Blümlinger auf die Probleme der interkulturellen Übersetzbarkeit filmkritischer Beschreibungssprache und damit des «Theorietransfers» aufmerksam. Die sprachlichen Differenzen markieren zugleich Unterschiede in der Konzeption des Gegenstandes, die sich der Übersetzung entziehen.

Guido Kirsten

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