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22 / 2 / 2013 Animationsfilm

Animationsfilm

Editorial

Suzanne Buchan
Die Quay Brothers
oder: «Die Produktivität des Fehlers»

Erwin Feyersinger
Von sich streckenden Strichen und hüpfenden Hühnern. Erkundungen des Kontinuums zwischen Abstraktion und Realismus

Jörg Schweinitz
Der Zeichenfilm als Bürge für den Kunstcharakter des Kinos.
Kleine Einführung in Karol Irzykowskis Apologie aus dem Jahr 1924

Karol Irzykowski
Der Zeichenfilm

Franziska Bruckner
Hybrides Bild, hybride Montage

Anja Laukötter
Wissen als Animation. Zur Transformation der Anschaulichkeit im Gesundheitsaufklärungsfilm

Marie-Thérèse Poncet
Der Platz des Zeichentrickfilms im System der Schönen Künste

«Animationsforschung ist Kulturforschung»
André Eckardt im Gespräch mit Franziska Bruckner und Erwin Feyersinger

Ralf Forster
Von der Zeichentricksinfonie zum Mischfilm.
Zäsuren des bundesdeutschen Werbeanimationsfilms um 1960

Ivo Ritzer
Transmedialität, Transgenerizität, Transkulturalität.
Zur axiomatischen Hybridität von anime

Donald Crafton
Zeichentrick-Schauspieler

Christine N. Brinckmann
Mickey Mouse in Vietnam

Maike Sarah Reinerth
Kleines Glossar

Editorial

Es gibt kaum einen Bereich unseres medialisierten Lebens, der nicht von animierten Bildern bestimmt ist. Deren Bandbreite ist enorm. Animierte Langfilme sind seit einigen Jahren nicht nur künstlerisch, sondern auch kommerziell höchst erfolgreich: So hielten sich 2013 mit Despicable Me 2 (Ich – Einfach unverbesserlich 2, Pierre Coffin/ Chris Renaud, USA 2013), Monsters University (Die Monster Uni, Dan Scanlon, USA 2013) und Frozen (Die Eiskönigin – Völlig unverfroren, Chris Buck/Jennifer Lee, USA 2013) drei Animationsfilme in den Top 10 der in den USA gestarteten Filme, in Deutschland zeigt sich mit Despicable Me 2 und The Smurfs 2 (Die Schlümpfe 2, Raja Gosnell, USA 2013) unter den erfolgreichsten Kinofilmen ein ähnliches Bild. Zudem verdeutlicht ein Blick auf die weiteren Platzierungen die rasante Zunahme digitaler Bearbeitungen und anderer sichtbarer und unsichtbarer Hybridisierungstechniken in populären Produktionen verschiedenster Genres, wie in Iron Man 3 (Shane Black, USA 2013), Oz the Great and Powerful (Die fantastische Welt von Oz, Sam Raimi, USA 2013) oder World War Z (Marc Forster, USA/Malta 2013). Auch in künstlerischer Hinsicht werden Hybridfilme wie Ari Folmans The Congress (IL/D u.a. 2013) diskutiert. Dieser kombiniert nicht nur formal Live-Action- und Animationstechniken innerhalb eines Werks, sondern verbindet sein ästhetisches Experiment auch mit drängenden Fragen nach der Zukunft realer und digitaler ‹Schauspieler› und dem Recht an den animierten Auftritten. Und nicht nur in Spielfilmen, sondern auch in nicht-fiktionalen Formaten verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Real- und Trickaufnahmen, wie die lebendige Diskussion um so genannte «Animadok»-Filme zeigt.

Abseits des klassischen Unterhaltungsfilms und -fernsehens finden sich Animationen in den unterschiedlichsten Kontexten: Künstlerische Animation wird immer häufiger in Galerien und Museen gezeigt, wie beispielsweise die Retrospektiven der Werke von Stephen und Timothy Quay 2012 im Museum of Modern Art in New York. In Wissenschafts-, Lehr-, Industrie- und Werbefilmen gehören animierte Visualisierungen schon lange zum Ausdrucksrepertoire; Computerspiele wären heute ohne Animation hauptsächlich Textabenteuer; in Musikvideos, aber auch bei Konzerten und DJ-Sets, sind Animationen visuelle Begleiter der Musik geworden. Animationen erzeugen hybride Wahrnehmungen in augmented realities und machen als projiziertes architektonisches Element Fassaden und Innenräume veränderbar. In vielen Bereichen des Alltags, ob am Geldautomaten, in der Straßenbahn und natürlich im Internet haben überdies animierte Grafiken längst schon statische Anzeigen ersetzt.

Dieses Spektrum erfordert eine ebenso breite wissenschaftliche Auseinandersetzung, und so befassen sich nicht nur Film- und Medienwissenschaft, sondern auch Kunstgeschichte, Bildwissenschaft, Game Studies, Informatik, Pädagogik, Psychologie und weitere Disziplinen zunehmend mit animierten Formaten. Mit seinem Schwerpunkt auf filmischen Formen konzentriert sich das vorliegende Themenheft von Montage AV auf einen besonders relevanten Teilbereich von Animation. Im ‹digitalen Zeitalter› ist die Beschäftigung mit dem Animationsfilm zu einer zentralen Aufgabe der Film- und Medienwissenschaft geworden, mehr noch: Es zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit Animation einen frischen Blick auf alte Probleme und grundsätzliche Fragen zum (Bewegt-)Bild ermöglicht. Aus der systematischen und historischen Betrachtung einiger Fallbeispiele werden in diesem Heft grundlegende Thesen zum Animationsfilm entwickelt. Uns geht es um Perspektiven einer film- und medienwissenschaftlich geprägten Animationsforschung, die ihre Anschlussfähigkeit an Fragestellungen anderer Disziplinen betont, auf deren Mithilfe sie bei der Erforschung eines so heterogenen Gegenstands angewiesen ist. Obschon die Beschäftigung mit animierten Bildern aktuell besonders virulent erscheint, möchten wir mit ausgewählten historischen Texten auch auf einflussreiche Ansätze aus der Vergangenheit aufmerksam machen, die aus heutiger Perspektive geradezu hellsichtig wirken und in Anbetracht gegenwärtiger Problemstellungen nach einer Wiederentdeckung verlangen.

«Den Zeichenfilm gering zu schätzen, nur weil es bereits den photographischen Film gibt, wäre ebenso absurd, wie es absurd wäre, die Malerei aufzugeben, nur weil man den Mechanismus der Photographie erfunden hat» – davon war der polnische Filmtheoretiker Karol Irzykowski bereits 1924 überzeugt (ein Kapitel aus seinem Buch Dziesiąta muza, dt.: Die zehnte Muse erscheint im vorliegenden Heft erstmals in deutscher Sprache). Aber nichts anderes war lange Zeit der Fall: So wie der Animationsfilm für den größeren Teil des 20. Jahrhunderts innerhalb der Filmindustrie eine marginalisierte Rolle einnahm, blieb er auch im akademischen Diskurs lange nur eine Randnotiz, was schon Juri Lotman 1978 bemängelte (Lotman 2004). Noch vor wenigen Jahren waren Stimmen selten, die dem Animationsfilm theoretische Beachtung schenkten. Es gibt eine überschaubare Zahl einschlägiger Aufsätze (neben dem erwähnten Text Lotmans zum Beispiel Kristin Thompsons «Implications of the Cel Animation Technique», 1980), einige wenige Sondernummern von Zeitschriften (zum Beispiel Film Comment Jg. 11, H. 1, 1975) und nur vereinzelte kurze Passagen in klassischen filmtheoretischen Werken (so etwa in Erwin Panofskys Aufsatz «Style and Medium in the Motion Pictures», 1936 [Panofsky 1985]).

Vor den späten 1980er Jahren finden sich kaum längere Studien, die sich auf den Animationsfilm konzentrieren und dabei nicht rein historisch oder praktisch ausgerichtet sind: Sergej Eisensteins Aufsatzsammlung, von Jay Leyda auf Englisch als Eisenstein on Disney (1986) herausgegeben, 1988 von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth erstmals auf Deutsch publiziert und kürzlich von ihnen als Sergej Eisenstein: Disney (2011) neu übersetzt, ist hier ebenso als Ausnahme zu nennen wie Reinhold Johann Holtz’ Dissertation Die Phänomenologie und Psychologie des Trickfilms (1940), Taihei Imamuras Manga eigaron (1948) und Marie-Thérèse Poncets L’Esthétique du dessin animé (1952), aus dem wir in diesem Heft ebenfalls erstmals ein Kapitel in deutscher Sprache zugänglich machen.

Innerhalb des marginalisierten Feldes der Animation wird – neben der Beschäftigung mit dem klassischen Zeichentrickfilm Disney’scher Prägung – vor allem dem experimentellen Animationsfilm Aufmerksamkeit zuteil. Zu diesem Randbereich der Filmpraxis entstehen in den 1970er Jahren einige Monografien. Einerseits heben sich experimentelle Filme durch ihr besonderes künstlerisches und politisches Potenzial entscheidend vom vermeintlich trivialen, an Kinder gerichteten Zeichentrickfilm ab – also von einem Bild der Animation, das die öffentliche und wissenschaftliche Auffassung lange Zeit geprägt hat. Zum anderen sind es die Animationskünstlerinnen und Animationskünstler selbst, die sich diesem Bereich theoretisch widmen, so etwa Malcolm Le Grice (Abstract Film and Beyond, 1977), Robert Russett und Cecile Starr (Experimental Animation. Origins of a New Art, 1976) oder Hans Scheugl und Ernst Schmidt (Eine Subgeschichte des Films, 1974).

Seit den 1990er Jahren lässt sich schließlich, vorwiegend im Rahmen der Filmwissenschaft und der Animationsausbildung, ein zunehmendes theoretisches Interesse am Gegenstand beobachten. Eine entscheidende Initiative kommt aus dem angloamerikanischen Raum: 1987 gründete Harvey Deneroff die Society for Animation Studies (SAS), die mit etwa 250 Mitgliedern heute weltweit stärkste wissenschaftliche Interessenvertretung der Animationsforschung. 1991 war das von Maureen Furniss herausgegebene Animation Journal das erste wissenschaftliche Periodikum zum Animationsfilm, seit 2006 bereichern zudem die Zeitschrift animation: an interdisciplinary journal und die online erscheinenden Periodika Animation Studies, seit 2011 auch Animation Practice, Process & Production und Con A de Animación das Spektrum aktueller Forschungsdiskurse. In den 1990er Jahren leisteten zudem Paul Wells (Understanding Animation, 1998) und Maureen Furniss (Art in Motion. Animation Aesthetics, 1999) mit ihren Monografien wichtige Beiträge zu einer systematischen Animationswissenschaft.

Auch in deutschsprachigen Ländern entwickelte sich in den 1990er Jahren ein verstärktes Interesse am Animationsfilm, das im neuen Jahrtausend noch zunahm (vgl. die Bibliografie von Goergen 2002) und 2010 zur Gründung eines institutionalisierten Netzwerks deutschsprachiger Animationsforscherinnen und Animationsforscher – der AG Animation unter dem Dach der Gesellschaft für Medienwissenschaft e.V. (GfM) – führte. In den letzten Jahren ist innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums eine starke Zunahme an Monografien, Aufsätzen, Sondernummern und Abschlussarbeiten zu Animationsthemen, ebenso wie ein Zuwachs an Tagungen, Festivals und Ausstellungen zu verzeichnen.

Eine der spannendsten Herausforderungen der Animationsforschung ist, dass es noch viel zu entdecken, neu zu vermessen und theoretisch zu erschließen gibt. Im vorliegenden Heft können wir uns nur einigen Aspekten widmen (einen umfassenden Überblick über weitere Themen bietet zum Beispiel die Bibliografie von Bruckner et al. 2012). Die thematische Ausgabe versucht zudem, Verknüpfungen zwischen diesen scheinbar so unterschiedlichen Forschungsbereichen herzustellen und dabei auch in der Animationsforschung bislang viel zu selten behandelte, aber wichtige Themen hervorzuheben.

Eine der am häufigsten gestellten Fragen ist die nach einer allgemeinen Definition von «Animation» (vgl. die Diskussionen dazu etwa in Solomon 1987; Small/Levinson 1989; Denslow 1997; Greenberg 2011). Viele der hier versammelten Beiträge liefern indirekt Antworten auf diese Frage. Ebenso häufig sind Abgrenzungsversuche von Realund Animationsfilm. Die Vorstellung einer strikten Dichotomie beider Formen ist in den Animation Studies inzwischen stark umstritten. Stattdessen haben sich Ansätze etabliert, die Real- und Animationsfilm nicht mehr in ihrer Verschiedenheit, sondern als nahe Verwandte betrachten: So schlägt Maureen Furniss (1999) vor, realfilmische und animierte Bilder innerhalb eines Kontinuums von «Abstraktion» und «Realismus» zu verorten – eine Idee, die auch von der neueren deutschsprachigen Forschung aufgegriffen wurde (Renoldner 2010; Reinerth 2013). Ein derartiges Kontinuum erscheint unter anderem deshalb besonders attraktiv, weil es ermöglicht, die große Bandbreite an Animationsstilen, die sich im Laufe der Filmgeschichte entwickelt haben, als Einheit mit nur graduellen Unterschieden zu betrachten. Erwin Feyersinger setzt sich in seinem Beitrag mit den Prämissen und Konsequenzen einer solchen Sichtweise auseinander. Er zeigt dabei, dass es begriffliche Unschärfen sind, die häufig zu einer problematischen Konzeptualisierung des Kontinuums zwischen den Polen Abstraktion und Realismus führen, und dass die Nivellierung werkinterner Simultaneität realistischer und abstrakter Elemente die Besonderheit einzelner Filme vergessen lässt. Durch Differenzierungen lassen sich solche Probleme minimieren. Hierdurch, so Feyersinger, gewinne das Konzept des Kontinuums an Aussagekraft und Produktivität.

Mit der Frage, ob Cartoon-Figuren wie Betty Boop oder Donald Duck als Darsteller bezeichnet werden können, beschäftigt sich Donald Crafton und berührt damit ein oft angesprochenes zentrales Unterscheidungskriterium zwischen Real- und Animationsfilm. Neben ökonomischen und (persönlichkeits-)rechtlichen Problemen, die eng mit einer solchen Fragestellung verknüpft sind und zur Zeit auch die Medienindustrie beschäftigen – man denke nur an die Diskussion um den Status «synthespischer» Performer wie Andy Serkis, der in der The Lord of the Rings-Trilogie (Peter Jackson, USA/NZL 2001–2003) Gollum verkörperte –, ergeben sich daraus auch Konsequenzen für die Betrachtung von Animationsfilmen. Crafton plädiert nicht nur dafür, von «Zeichentrick-Schauspiel» zu sprechen, sondern setzt sich auch mit den Darstellungsstrategien fiktiver Akteure auseinander, die von amerikanischen Studios – zum Beispiel von Disney oder den Fleischer- Brüdern – entwickelt wurden.

Der narrative Animationsfilm, wie er im Kino und im Fernsehen, auf DVD und Blu-ray vertrieben wird, ist zudem oft mit Fragen nach Gattungs- und Genrezugehörigkeiten konfrontiert worden. Versuche allerdings, den Animationsfilm als Genre zu definieren oder sein narrativ-ästhetisches Formenspektrum auf eine begrenzte Anzahl naheliegender Genres reduzieren zu wollen, sind mit weitreichenden und oft problematischen Implikationen verbunden (vgl. Reinerth 2013). Sie erscheinen auch angesichts der tatsächlichen Vielfalt von Animation wenig vielversprechend. Eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern macht dagegen die Genre-Frage produktiv, indem sie innerhalb der Gesamtheit des Animationsfilms typische Einzelgenres oder paradigmatische Stilepochen aufzeigen (vgl. Crafton 1982; Hu 2010) oder spezifische, die klassischen Genres und deren Konventionen transformierende Herangehensweisen in den Mittelpunkt stellen (vgl. Wells 2002).

Der einleitende kurze Blick in die aktuellen Bestenlisten hat bereits gezeigt, dass Fragen nach der Trans- und Intermedialität sowie nach der Rolle von Animation im Verweissystem unserer Medienkultur besonders virulent erscheinen: Ob es sich um filmische Adaptionen beliebter Comics wie der belgischen Schtroumpfs (Die Schlümpfe, Peyo u.a., 1958ff), um narrative Erweiterungen multimedial erschaffener storyworlds wie im Fall des Matrix-Universums oder um das Zusammenspiel verschiedener animierter Formate (vom Fernsehfilm über die Serie bis zum Computerspiel) beim transmedialen worldmaking handelt: Wo multimedial erzählt wird, spielt Animation oft eine hervorgehobene Rolle. Mit Blick auf das medienübergreifende Afro-Samurai-Franchise, das eine Manga-Reihe, eine anime-TV-Serie, einen Fernsehfilm und ein digitales Videospiel umfasst, analysiert Ivo Ritzer solche transmedialen Beziehungen. Er zeigt an diesem paradigmatischen Fall, in welchem Maße Bild- und Erzählmotive zwischen den Medien ‹reisen›, aus welchen Quellen (Filmgenres, medialen Formaten, nationalen Mythen) sich die visuellen Formen des im Franchise tonangebenden anime speisen, wie sie wechselseitig auf die jeweils anderen medialen Repräsentationen einwirken und sich auf hybride Weise verbinden.

Werkintern sind Animationen häufig Teil multimodaler Textstrukturen – zum Beispiel in Hybridfilmen, die längst zur medienkulturellen Normalität künstlerischer wie kommerzieller Produktionen geworden sind. Für diese bietet Franziska Bruckner eine umfassende Untersuchungsheuristik an. Sie betrachtet in ihrem Beitrag diese filmischen Mischformen anhand distinkter visueller Merkmale und erstellt eine formale Typologie, die unterschiedliche Charakteristika hybrider Bilder aus filmbildästhetischer Perspektive beleuchtet.

Während die Beschäftigung mit kommerziellen Mainstream-Animationen auch jenseits der Disney-Studios durch die Popularität digitaler Animationsfilme, -serien und Games gerade in der letzten Dekade an Fahrt gewonnen hat, existiert bereits eine gut entwickelte Tradition der Beschäftigung mit künstlerischen Animationen und ihrem Verhältnis zur bildenden Kunst. Mit der Publikation zweier historischer Beiträge möchten wir Schlaglichter auf diese Forschungsrichtung innerhalb der Animation Studies werfen. Aus dem 1924 in Krakau erschienenen Buch des polnischen Filmtheorie-Klassikers Karol Irzykowski Dziesiąta muza (Die zehnte Muse) stammt ein Kapitel zum «Zeichenfilm». Da der Band, obschon er ein zentrales Dokument der europäischen Filmtheoriegeschichte ist, bislang nicht ins Deutsche und nur in einigen Bruchstücken ins Englische übertragen wurde, ist diese frühe Würdigung einer Trickfilmgattung außerhalb Polens eine große Unbekannte in der Animationsforschung. Nun steht Irzykowskis kleine Apologie endlich in deutscher Sprache zur Verfügung, von Jörg Schweinitz eingeführt und im Kontext zeitgenössischer Filmtheorien situiert.

Auch das zweite Fundstück entstammt einem Buch aus der Frühphase wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Animationsfilm; es handelt sich um ein Kapitel aus Marie-Thérèse Poncets L’Esthétique du dessin animé (1952), das auf ihrer Habilitationsschrift von 1951 basiert. Die Autorin legt darin dar, dass der Zeichentrickfilm auf sämtliche Bereiche der Kunst zurückgreift, die ihr Lehrer, der französische Philosoph und Filmologe Étienne Souriau, in seiner Monografie La Correspondance des arts (1947) systematisch differenziert hatte. Poncet will nicht nur nachweisen, dass der Zeichentrickfilm legitim den Schönen Künsten zuzurechnen sei, sondern dass es sich sogar um die einzige filmische Gattung handele, die das gesamte System der Kunst in sich aufzunehmen vermöge.

In einem Beitrag über die Animatoren Stephen und Timothy Quay widmet sich Suzanne Buchan schließlich zeitgenössischen Vertretern einer künstlerisch-experimentellen Animationspraxis. Die Filme der Quay Brothers sind aus Lichteffekten, Puppen, rohem Fleisch, Maschinenteilen und anderen seltsamen Objekten animiert, und sie sind ebenso untergründig wie grotesk, ebenso poetisch wie verstörend. Ihre Projekte entwickeln sie nicht nur für Kino und Fernsehen, sondern auch für Ausstellungskontexte – verschiedene Museen haben bereits Werke der Quays gezeigt.

Animationen treten heute als Vermittler komplexer Informationen und abstrakten Wissens in Erscheinung: Interaktive Grafiken in Online- Publikationen übertragen live den aktuellen Trend der Börse oder erklären den Ausgang einer Wahl; im Fernsehen veranschaulichen sie die Wetterprognose oder ergänzen die Fußballübertragung um spielanalytische Details; in den Natur- und Sozialwissenschaften können mit ihrer Hilfe für das menschliche Auge unsichtbare Vorgänge und Prozesse sicht- und nachvollziehbar gemacht werden. Diese Visualisierungen werden wiederum von populären Bewegtbildmedien aufgegriffen und verbreitet. Welche Funktionen Animationen in solchen filmischen Gebrauchskontexten übernehmen können, untersucht Anja Laukötter am Beispiel historischer Filme zur Gesundheitsaufklärung. Sie weist nicht nur darauf hin, wie früh sich die Medizin Techniken der Animation und technischer Bildnerei bediente, um medizinische Sachverhalte anschaulich mitzuteilen, sondern zeigt auch, dass dabei fast immer Ziele der Aufklärung verfolgt wurden und der Gebrauch der Mittel oft reflexiv erfolgte. Diese Praxis deutet sie als schrittweise Eroberung von Formen der visuellen Zugänglichkeit medizinischer Gegenstände, die erst durch die Filme ermöglicht wurde, wobei zugleich der Abstraktionscharakter der Visualisierungen hervortrat.

Überhaupt bildet die animationsgeschichtliche Forschung nach wie vor eine zentrale Säule der Animation Studies. Der Arbeit von Filmhistorikern und Filmhistorikerinnen ist es zu verdanken, dass eine Vielzahl früher Animationsfilme heute überhaupt zugänglich und wissenschaftlich dokumentiert ist. Mit dem Deutschen Institut für Animationsfilm (DIAF) existiert seit 1993 in Dresden eine Institution, in der bislang vergessene Schätze der Animationsfilmgeschichte gehoben, aufgearbeitet, archiviert und der Öffentlichkeit in Ausstellungen mit Begleitprogramm zugänglich gemacht werden. Franziska Bruckner und Erwin Feyersinger von der AG Animation unterhalten sich in einem Interviewbeitrag mit André Eckardt, dem Leiter des DIAF, über die gegenwärtigen Ziele und Herausforderungen animationswissenschaftlicher Archiv- und Bildungsarbeit.

Ebenfalls historisch arbeitet Ralf Forster, der in seinem Beitrag die Beschäftigung mit Werbeclips als transmedialem Vehikel der Animationsbranche mit Ansätzen einer nationalen Stilgeschichte verbindet. Er zeichnet nach, wie sich der bundesdeutsche Reklametrickfilm ab Mitte der 1950er Jahre zunehmend vom reinen Animations- zum Hybridfilm wandelt. Beeinflusst werde diese Entwicklung einerseits durch die «Amerikanisierung» der Werbewirtschaft und ihrer Diskurse, andererseits durch den Medienwechsel des Werbefilms vom Kino ins Fernsehen, unter dessen spezifischen Anforderungen sich neue bildästhetische und narrative Formen herausbildeten.

Zu den besonders bemerkenswerten und vielfach herausgestellten Möglichkeiten des Animationsfilms zählt auch die des politischen Kommentars – in satirischen Cartoons (zum Beispiel The Simpsons, Matt Groening, USA 1989ff) ebenso wie in propagandistischen Produktionen (wie Walt Disney’s Der Fuehrer’s Face, USA 1942 oder den zahlreichen animierten Versionen der japanischen Momotarô-Legende). Für die kulturell kommentierende und politisch-subversive Tradition von Animation steht im vorliegenden Heft die von Christine N. Brinckmann kommentierte Dokumentation des wiederentdeckten Kurzfilms Mickey Mouse in Vietnam (Lee Savage/Milton Glaser, USA 1968). Abschließend soll das «Kleine Glossar» von Maike Sarah Reinerth einen Überblick über die gängigsten Animationstechniken bereitstellen.

Die Themen der im Heft versammelten Beiträge sind nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum der Animationsforschung. Das Heft versteht sich als Einladung, das vielfältige, in Teilen noch gänzlich unentdeckte Feld zu erschließen, sowie als Puzzleteil eines größeren und langfristigen Projekts: der Integration animationstheoretischer Perspektiven in die Film- und Medienwissenschaft.

Erwin Feyersinger, Maike Sarah Reinerth

Literatur

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