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28 / 2 / 2019 Nähe und Distanz

demo

Editorial:
Nähe und Distanz im Film
(140 kB)

Matthias Wittmann:
Drehtüren zwischen Nähe und Distanz.
Der Blick in die Kamera als Trope des iranischen Kinos
(8,2 MB)

Guido Kirsten:
Distanz wahren.
Proxemik und politische Semantik in Bad Day at Black Rock
(7,3 MB)

Marion Biet / Nicole Kandioler:
Beziehungsarbeit im Langzeitdokumentarfilm
zwischen Distanz und Nähe
 (6 MB)

Olga Moskatova:
Taktilität und Visualität.
Nähe und Distanz in postkinematografischen Kontroll- und Immunisierungsdispositiven
(1 MB)

Laura Katharina Mücke:
Nähe und Distanz im interaktiven Spielfilm.
Von Kinoautomat (1967) zu Bandersnatch (2018)
(1,7 MB)

Franziska Wagner:
Zum Greifen nah?
Annäherungen an das Verhältnis von Nähe und Distanz in VR-Filmen
(2,2 MB)

Hongwei Bao:
Guerilla-Taktiken.
Das Beijing Queer Film Festival und radikale Filmkultur
(4,3 MB)

Artikelreihe «Dispositive»

Fabienne Liptay:
Der menschliche Maßstab. Zur Kartografie des Kinos im amerikanischen Expanded Cinema (167 kB)

In memoriam

Edward Branigan (607 kB)

Edward Branigan:
Anthropomorphismus, Kamerabewegung und der menschliche Körper (92 kB)

Editorial:
Nähe und Distanz im Film

In einer zentralen Szene in Tomboy (Céline Sciamma, F 2011) steht die zehnjährige Laure, die sich wie ein Junge fühlt, kleidet und verhält, vor einem Spiegel und betrachtet sich. Vor Kurzem ist sie mit ihrer Familie in eine neue Umgebung gezogen, wo sie – nunmehr: er – sich den Kindern aus der Nachbarschaft als Mickaël vorstellt. Es sind Sommerferien, und er ist mit den anderen zum Baden verabredet. Bedenken hat er wegen der sichtbar fehlenden Beule in der Badehose. Doch Mickaël weiß sich zu helfen: Aus Knete fingiert er einen Penis, rückt ihn an die richtige Stelle und tritt erneut vor den Spiegel.

Die Handlung wird nicht verbal erläutert, als Zuschauer*innen müssen wir uns selbst einen Reim darauf machen. Das gelingt, wenn wir uns in gedanklicher Simulation auf die Motivation des Protagonisten einlassen, wir also – auch wenn es sich optisch nicht um einen genuinen Point-of-View-Shot handelt – ‹durch die Augen› von Mickaël auf sein Spiegelbild blicken. Überformt ist dieser Blick von dem antizipierten Blick der anderen Kinder, denn es geht Mickaël ja darum, sich so zu sehen, wie die anderen ihn beim gemeinsamen Baden sehen werden, um zu prüfen, ob das passing funktionieren kann. Die Empathie mit Mickaël gelingt in dem Maße, wie sein Blick auf sich selbst als möglicher Blick von anderen verstanden wird.

In diesem Maße ist auch das Erleben der nachfolgenden Szene von der empathischen Anteilnahme geprägt. Nur daher erhält sie, obgleich nichts Spektakuläres geschieht – die Jugendlichen schwimmen zu einer kleinen Plattform; verwickeln einander in Spaßkämpfe –, eine Spannung, die allein in der Angst vor Mickaëls versehentlicher Entblößung gründet. Er selbst verhält sich allerdings kaum so, als teile er diese Befürchtung. Vielmehr spielt und kämpft er selbstvergessen mit den anderen Jugendlichen und versucht, seine neue Freundin Lisa zu beeindrucken. Alessandro Giovannelli, für den Sympathie immer eine Komponente von Empathie umfasst, spricht für solche Fälle von einer «sympathy by proxy» (2009, 86; Herv. i. O.): Wir teilen eine Empfindung, die der Protagonist zwar nicht akut hat, unserer Ansicht nach aber berechtigterweise haben könnte oder müsste. In jedem Fall empfinden wir eine «gefühlte Nähe» (Eder 2006) zu Mickaël – zumindest sofern wir bereit sind, uns auf die Geschichte einzulassen, uns in den narrativen Verlauf auch emotional «eintakten» zu lassen, «im Rhythmus der erzählten Ereignisse» mitzuschwingen (Odin 2019 [2011], 75).

Die gefühlte Nähe basiert erzähllogisch auf einer internen Fokalisierung: Als Zuschauer*in wissen wir genauso viel (über die Knete in der Hose) und genauso wenig (was passieren wird) wie die Figur. Interessanterweise sind die filmischen Mittel ganz anders ausgerichtet, da sie die Nähe eher vermeiden. Die Badeszene ist relativ schnell geschnitten, es alternieren Totalen, Halbtotalen und halbnahe Einstellungen. Räumlich werden wir auf Distanz gehalten – auf Großaufnahmen und PoV-Shots hat die Regisseurin verzichtet. Der Ton ist diffus und atmosphärisch; es sind Geräusche vom Schwimmen und Herumtollen, Stimmengewirr und einzelne Dialogelemente zu hören. Die gefühlte Nähe zu Mickaël ist von den Einstellungsgrößen und vom Sounddesign offenbar weitgehend unabhängig, korreliert aber mit einem allgemeineren Gefühl des emotionalen ‹Im-Film- Seins›, das auch als «fiktionale Immersion» (Voss 2008) bezeichnet werden kann (im Unterschied zu rein räumlicher oder interaktiver Immersion) und das sich einstellt, wenn man die filmische Handlung kognitiv versteht und sich affektiv involviert fühlt. Die Spannung der Szene wiederum hängt auch mit dem körperlichen Näheverhalten der Jugendlichen zusammen: Sie toben, spielen und versuchen sich von der kleinen Plattform ins Wasser zu schubsen. Das ist einerseits harmloses Spiel, andererseits wächst so die Gefahr, dass Mickaël im Eifer des Gefechts entblößt wird …

Vier filmische Ebenen von Nähe und Distanz

Für die Sequenz aus Tomboy lassen sich entsprechend bereits vier Ebenen von Nähe und Distanz differenzieren: 1. Die Abstände auf der Bild- und Tonebene (Découpage); 2. die räumlichen Verhältnisse der Figuren zueinander (Proxemik); 3. das affektive Verhältnis der Zuschauer*in zum Protagonisten (Empathie und Sympathie); 4. das Gefühl einer Involviertheit in das narrative Geschehen (Immersion). Bei den ersten beiden Ebenen ließe sich auch von genuiner (physischer und perzeptiver) Nähe sprechen, während es sich bei den letzten beiden um eine (allerdings gängige und intuitive) Nähe/Distanz-Metaphorik handelt. Die vier genannten Ebenen von Abständen lassen sich prinzipiell für alle narrativen Filme beobachten und in ihrem jeweiligen Zusammenspiel genauer untersuchen.

Die erste Ebene ist fundamental, denn ohne die Festlegung, aus welcher Entfernung das Geschehen gefilmt wird, kann es keine filmische Einstellung geben. Éric Rohmer beschreibt es so: «Für mich ist die Découpage […] das wichtigste Element der Mise en Scène. […] Was bedeutet es zu filmen? Es bedeutet zu wissen, wo man die Kamera platziert und wie lange sie dort bleiben soll. Die Découpage ist für mich das Geheimnis» (Rohmer 2004, zit. n. Aumont 2010, 48 f.; Übers. G. K.). In diesem Sinne hat Raymond Bellour 1966, vor dem Hintergrund der damals noch aktuellen politique des auteurs, den Vorschlag gemacht, die Kunst des Films als Kunst der Abstände zu definieren. Für ihn kommt in der Wahl der Kamerastandorte, Einstellungsgrößen und Kamerabewegungen die jeweilige Sicht des Regisseurs auf die Welt zum Ausdruck; die Bilder sprechen von den Visionen ihrer Autoren, die «Distanzen organisieren sich wie die Wörter in der Sprache»; «ein Film ist schließlich eine Abfolge miteinander verbundener Abstände» (Bellour 1966, 43; Übers. G. K.).

Noch bevor es zu dieser (stark von André Bazin beeinflussten) Auslegung der szenischen Auflösung als «Weltsicht» eines auteur kam, galt die filmische Découpage als eine der wichtigsten Neuerungen des Films gegenüber Malerei und Theater:

Aber der Film hat nicht nur Stofflich-Neues gebracht im Laufe seiner Entwicklung. Er hat etwas Entscheidendes getan. Er hat die fixierte Distanz des Zuschauers aufgehoben; jene Distanz, die bisher zum Wesen der sichtbaren Künste gehört hat. Der Zuschauer steht nicht mehr außerhalb einer in sich geschlossenen Welt der Kunst, die im Bild oder auf der Bühne gerahmt ist. […] Die Kamera nimmt mein Auge mit. Mitten ins Bild hinein. Ich sehe die Dinge aus dem Raum des Films. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und verwickelt in seine Handlung, die ich von allen Seiten sehe. (Balázs 1984 [1930], 56; Herv. i. O.)

Während Bellour in der Spezifik der jeweiligen Découpage den jeweiligen «Abstand zur Welt» der Regisseure erkennt, arbeitet für Balázs die überindividuelle, als allgemeine neue Technik des Films verstandene Découpage einer räumlichen Immersion zu.

Ist die klassische Filmtheorie noch auf die Bildebene fixiert, lässt sich die Frage spätestens seit den Arbeiten von Michel Chion (1994 [1990]) und Barbara Flückiger auf die Tonebene übertragen. Auch die akustische Perspektive kann Nähe und Distanz evozieren: Sie kann sich auf einen einzelnen Punkt konzentrieren, wie Flückiger (2002, 153 ff.) für die Eingrenzung des Hörraums auf die Wahrnehmungsebene der Protagonistin am Anfang von The Piano (Jane Campion, NZ/AUS/F 1993) festgehalten hat, oder im Gegenteil eine große Weite erklingen lassen. Sie kann die Hörperspektive nur einer Figur simulieren, wie in Idi i smotri (Komm und Sieh, Elem Klimov, SU 1985), den Tinnitus im Ohr eines Jungen, der einen Bombenangriff erlebt, oder aber, wie in der Bibliotheksszene in Der Himmel über Berlin (Wim Wenders, BRD/F 1987), die Pluralität der gehörten Stimmen derart indifferent gestalten, dass jede räumliche Orientierung verloren geht. Mit der Kombination von optischer und akustischer Découpage lassen sich räumliche Homogenisierungen ebenso bewerkstelligen wie paradoxe Verhältnisse (etwa eine Supertotale mit punktgenauer Tonlokalisierung), Asynchronitäten (Bild-Ton-Verschiebungen) oder radikale Divergenzen (zu sehen ist eine Szene, zu hören eine andere, die zeitgleich andernorts spielt). Das Erleben von perzeptiver Nähe und Distanz hängt auch von diesen Verbindungen ab.

Die zweite Ebene von Nähe- und Distanzverhältnissen – die der innerdiegetischen Abstände zwischen den Figuren – ist für den Film nicht weniger grundlegend. So wie in der Découpage der Abstand zur Kamera und die Wahl des Objektivs und in der Tonaufnahme der Standort und die Art des Mikrofons festgelegt wird, muss, sobald es sich um Einstellungen mit mehr als einer Figur handelt, in der Mise en Scène entschieden werden, welchen Raum die Figuren für sich beanspruchen und welche Distanzen sie zueinander einnehmen. Über die Abstände zueinander bringen die Figuren bewusst oder unbewusst ihre Verhältnisse (etwa Hierarchien oder Abhängigkeiten) und ihre Emotionen (Zuneigungen, Abneigungen) und Intentionen zum Ausdruck. Oft besteht die narrative Dynamik im Laufe eines Films in einer Verschiebung (Annäherung oder Entfernung) der Figuren zueinander, die auch im Bildraum beobachtet werden kann.

Nähe und Distanz spielen nicht nur in einer Szene, sondern auch in der Anordnung verschiedener Handlungsräume eine wichtige Rolle. Schon im frühen Film ist bei Motiven wie der Verfolgungsjagd oder im Motiv ‹Rettung in letzter Minute›, bei der zunächst eine räumliche Entfernung und diverse Hindernisse überwunden werden müssen, der Abstand zwischen verschiedenen Orten konstitutiv für die Erzählung. Im lateralelliptischen Verfahren sind Entfernungen zwischen mehreren Handlungsorten insofern entscheidend, als hier ein narrativ bedeutsames Ereignis nicht zeitlich ausgelassen wird wie in einer temporalen Ellipse, sondern räumlich umgangen oder, wie Genette schreibt, «beiseite» gelassen wird (Genette 1998 [1972], 34; vgl. Kirsten 2012). Der Handlungsraum eines Films kann Entfernungen über einen gesamten Planeten ( ja über mehrere Universen) hinweg umfassen oder sich weitgehend auf weniger als einen Quadratmeter beschränken, wie etwa in Buried (Rodrigo Cortés, E/GB/USA/F 2010) auf die Größe eines Sarges. So definiert die Raumgestaltung nicht nur die diegetische Welt, sondern bringt entscheidende Wirkungen auf den gesamten Filmstil mit sich.

In den vergangenen 25 Jahren hat sich die Filmwissenschaft wohl am stärksten auf die dritte Abstandsebene konzentriert, die das Verhältnis der Zuschauer*in zur fiktionalen Figur oder zur dokumentierten sozialen Akteur*in betrifft. Die Forschungsliteratur zu Fragen von Empathie und Sympathie im Film ist kaum noch zu überblicken (vgl. stellvertretend für viele andere Titel: Hagener/Vendrell Ferran 2017). Schon die Verwendung und Abgrenzung der Begriffe voneinander ist umstritten. Während einige Autor*innen sympathisierende Gefühle (als «feeling for» oder «acentral imagining») kategorisch von empathisierenden Gefühlen («feeling with», «central imagining») unterscheiden (vgl. etwa Gaut 2010), betonen andere die Kontinuitäten (Giovanelli 2009) oder machen beides (Smith 1995). Geht man allerdings davon aus, dass auch bei genuiner Empathie (als Einfühlung im starken Sinn) immer ein Bewusstsein der Differenz von Selbst- und Fremdreferenz gewahrt bleibt, können die Unterschiede zur Sympathie ohnehin nur gradueller Natur sein. Hinzukommt, dass oft unmerkliche Übergänge zwischen eher von innen und eher von außen für eine Figur empfundenen Gefühlen und Gedanken zu beobachten sind, ohne dass die Veränderung für das Erleben eine größere Rolle spielen würde – die angesprochene Sequenz aus Tomboy wäre ein Beispiel. Daher macht es Sinn, als Beschreibung der Zuschauerreaktion von ‹gefühlter Nähe› zu Figuren zu sprechen und davon auszugehen, dass sie Gedanken, Emotionen und körperliche Empfindungen beinhaltet, die zwischen Sympathie und Empathie schwanken oder beide Tendenzen umfassen.

Kaum zu bestreiten ist, dass eine solche gefühlte Nähe in engem Zusammenhang mit der vierten Ebene steht: Insofern wir mitfühlen, sind wir – metaphorisch gesprochen – auch im Film ‹drin› (und teilweise unserer physischen Umgebung und der Selbstwahrnehmung entrückt). Allerdings lassen sich verschiedene Arten der Immersion unterscheiden: eine Immersion in den filmischen Raum mittels IMAX, 3D oder VR, eine kognitive und emotionale Immersion in die filmische Narration, eine intellektuelle Immersion in den filmischen Diskurs, eine ästhetische Immersion in das Arrangement der Bilder und Töne oder eine ludische oder anderweitig interaktive Komponente, welche die Zuschauer*innen als Handelnde integriert (Montage AV 17,2 (2008); Neitzel 2018). Entsprechend verschieden sind die Phänomene, welche sich auf den Begriff der Immersion beziehen. Der Diskurs zur ‹totalen› Immersion als Metaphorik und Mythos (Schweinitz 2008; Liptay/Dogramaci 2016; Kasprowicz/ Breyer 2019) thematisiert jedenfalls explizit die Prozesse der Annäherung und der Distanzierung.

Nähe und Distanz als Parameter der Rezeption

Historisch geprägt ist die Rezeption zudem von normativen Vorstellungen von richtigen oder angemessenen Haltungen zum Werk und zu Umgangsformen damit. Die heute prominente Forderung nach gesteigertem Präsenzerleben in der medialen Umgebung, zu ständig größerer Immersion und damit somatischer, emotionaler, kognitiver und/oder handlungsbasierter Einbindung in filmische Werke lässt sich mit älteren Diskursen kontrastieren, die umgekehrt die Notwendigkeit von ästhetischer Distanz betonten.

Diese Kompetenz, zum Kunstmedium eine Distanz einzunehmen, um sich von der Darbietung nicht einweben zu lassen, wurde bisweilen politisch gewendet, besonders pointiert von Friedrich Nietzsche mit seinem geistesaristokratischen «Pathos der Distanz» (1976 [1886], 197). Neben derartigen Überhöhungen finden sich Betrachtungen eher innerästhetischer Art, etwa Edward Bulloughs Idee der «psychischen Distanz» zwischen dem Selbst und seinen Affizierungen: «This Distance appears to lie between our own self and its affections, using the latter term in its broadest sense as anything which affects our being, bodily or spiritually, e.g. as sensation, perception, emotional state or idea» (Bullough 1912, 89). Elaborierte Kunstbetrachtung unterscheidet sich demnach von einem affektbasierten Verlust des Selbst in der künstlerischen Darbietung darin, dass sich Zuschauer*innen während der Rezeption außerhalb ihrer eigenen Bedürfnisse und Affekte positionieren müssten.

Bei Bullough fällt ein Begriff, den auch Walter Benjamin an zentraler Stelle in seinem Kunstwerk-Aufsatz verwendet: die ‹Kontemplation› als Gegenbegriff zur ‹Zerstreuung›, die Siegfried Kracauer dem 20. Jahrhundert der Kaufhäuser und urbanen Lichtspielhäuser zugerechnet hatte (vgl. Kracauer 1963 [1926]). In Benjamins unter dem Eindruck des Faschismus geschriebener Verfallsgeschichte der Bürgerlichkeit wird die von Bullough noch nobilitierte Kontemplation oder «Versenkung» zu einer «Schule asozialen Verhaltens». Ihr tritt «die Ablenkung als Spielart sozialen Verhaltens» gegenüber, zunächst in der anti-auratischen und provokanten Kunst des Dadaismus, dann in Form der kinematografischen Montage, dem permanenten «Wechsel der Schauplätze und Einstellungen», der die Kontemplation verhindert (1991 [1935], 463 f.). Der Modus der notwendig zerstreuten Rezeption steht der überkommenen Kontemplation ebenso gegenüber wie dem Empfinden jener «einmaligen Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag», jenem Residuum theologischer Fundierung der Kunstrezeption, das die Aura des einmaligen Kunstwerks ausmacht (ibid., 440 f.). Ähnlich wie für Balázs, aber aus anderen Gründen, hat sich für Benjamin mit dem Film eine fundamentale Umwertung der Nähe-Distanz-Relationen in der Kunstbetrachtung vollzogen.

Nicht weniger diskursmächtig waren die Überlegungen von Benjamins Freund Bertolt Brecht zu einer Ästhetik von Theater und Oper, die sowohl auf der Ebene der Einfühlung in die Figuren (vgl. Brecht 1963b) wie auf der des Verhältnisses zum Bühnengeschehen insgesamt zu Distanzierungen führen sollte. (Etwas ungenau, aber nicht ohne Grund, wurde Brechts V-Effekt ins Englische oft als «distanciation effect» übersetzt.) Während die «dramatische» (später: «aristotelische») Form des Theaters «den Zuschauer in eine Aktion» verwickelt, ihn «in eine Handlung hineinversetzt», wird er ihr in der «epischen» (später: «dialektischen» oder «nichtaristotelischen») Form «gegenübergesetzt» und zu einem «Betrachter» gemacht (Brecht 1963a [1930], 116). Brechts Ziel war bekanntlich, das Publikum in ein anderes Verhältnis zur Darstellung und zum Dargestellten zu versetzen. Es sollte zur Mündigkeit, zur Kritikfähigkeit, zu demokratischem Geiste erzogen werden, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ihm dies wiederum als autoritäre, weil didaktische Geste ausgelegt wurde (prominent etwa von Adorno [2003 (1970), 360]).

Was Brecht und ihm folgende Theater- und Filmschaffende jedenfalls vernachlässigen, ist die Fähigkeit der Zuschauer*innen, verschiedene Haltungen gleichzeitig einzunehmen. Eine emotionale Rührung oder eine Nähe zu Figuren muss keineswegs die kognitiven Prozesse ausschalten. Auch oder gerade durch die Einfühlung kann ein Diskursraum geöffnet werden. Auch hierfür könnte Tomboy, sofern die gefühlte Nähe zum Protagonisten das mentale Verhältnis der Zuschauer*in zu Transgender-Problematiken verändert, beispielhaft sein. Nichts spricht prinzipiell dagegen, dass die emotionale Nähe zur Figur auch zu einer Distanz gegenüber den gegebenen (‹naturalisierten›) sozialen Verhältnissen führen kann. In Tomboy kann das am Ende sogar eine kritische Distanz zum Film nahelegen: Der Film endet damit, dass sich Mickaël (aufgrund der cisnormativen Matrix der Eltern und der Schule) nicht nur in Laure zurückverwandeln muss, sondern mit einem Lächeln auch sein/ihr Einverständnis damit zu bekunden scheint. Diese Normalisierungsgeste, die dem zuvor Erzählten vermeintlich entgegensteht, kann Widerspruch auf Seiten der Zuschauer*in herausfordern und dazu führen, die Gründe für einen solchen Schluss in Frage zu stellen.

Zu den Artikeln

Mediale Konfigurationen der vielen verschiedenen Arten von Nähe und Distanz sind im Wandel begriffen. Neue filmische Formen, neue Dispositive, neue technische Möglichkeiten verändern die physischen, perzeptiven (audiovisuellen und haptischen), kognitiven und affektiven Abstände in der Erfahrung von Filmen. Dabei ist bemerkenswert, dass Nähe und Distanz einerseits ein graduelles Kontinuum zeichnen (von sehr weit entfernt bis ganz nah dran), aber auch plötzlich ineinander kippen und somit scheinbar paradoxe Situationen etablieren können: Ein Zustand, den man in Anlehnung an Bullough als «under-distance», als «zu nah» begreifen kann, führt schnell zur Distanznahme oder gar zum Abbruch der Rezeption – und damit zu einer «over-distance» (1912, 94). Umgekehrt kann eine zunächst unüberbrückbare Fremdheit und Distanz plötzlich in Faszination und Annäherung umschlagen.

In den folgenden Beiträgen klingt die kaum strukturierbare Vielfalt an, die sich aus dem Zusammenspiel konkreter audiovisueller und metaphorischer, räumlicher und zeitlicher, emotionaler, kultureller, taktiler und sozialer, diegetischer und das Dispositiv betreffender Abstände ergibt. Die Autor*innen der folgenden Beiträge adressieren diese Konfigurationen und Dynamiken und loten auf verschiedenen Ebenen die Mechanismen von Annäherung und Distanzierung aus. Dabei umspannen die behandelten Beispiele auch in geografischer Hinsicht größere Entfernungen. Matthias Wittmann eröffnet den Themenschwerpunkt mit Beobachtungen zu intrikaten Verhältnissen von Nähe und Distanz in iranischen Filmen, die mit Blicken in die Kamera arbeiten. Mit Verweis auf die persische Bildtradition und spezifische Codes, die mit der Islamisierung der Kinokultur nach der Revolution von 1979 zusammenhängen, zeigt er, dass solche Blicke nicht einfach als Brüche in einer vermeintlichen vierten Wand aufzufassen sind. Vielmehr haben wir es mit komplexen Verhältnissen zu tun, deren besonderer Bedeutung in den jeweiligen Beispielen Wittmann nachspürt und dabei Drehtüren zwischen Nähe und Distanz entdeckt: Als Zuschauer*innen werden wir in vielen der beschriebenen Szenen auf verschiedene Weise gleichzeitig adressiert und involviert und außen vor gelassen.

Anschließend führt uns Guido Kirsten weit in den Westen und zurück in die 40er- und 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts. An Bad Day at Black Rock beobachtet er bemerkenswerte Figurenkonfigurationen im Bildraum: Die Figuren scheinen einen besonders großen Abstand zueinander zu wahren, dessen Bedeutung Kirsten mit Rückgriff auf Edward Halls Theorie der Proxemik erläutert. Weiter legt er dar, wie die innerdiegetischen Distanznahmen der Figuren mit der politischen Semantik des Films interagieren, der die Internierung japanischstämmiger Amerikaner thematisiert.

Beim Dokumentarfilm ist die Frage von Nähe und Distanz nicht allein eine ästhetische oder epistemische, sondern von grundsätzlicher Bedeutung, weil entscheidend für das Gelingen des Projekts: Die persönliche und kommunikative Beziehung zwischen den Akteur*innen vor und hinter der Kamera muss ausgelotet werden und geht in den Film ein. Dies gilt umso mehr für dokumentarische Langzeitvorhaben, die im Zentrum des Beitrags von Marion Biet und Nicole Kandioler stehen. Bei solchen Projekten ist die Lebenszeit von Filmemacher*innen und Gefilmten über Jahre, manchmal Jahrzehnte hinweg miteinander verbunden. Nicht allein Menschen werden älter: Im Laufe der Jahre ändern sich Ansatz und Untersuchungsinteresse der Filme wie auch die Aufnahme- und Postproduktionstechnik. Die anwachsende Materialmenge erfordert eine Distanzierung bei der Montage, die das Material analysiert und zu einer biografischen Erzählung verdichtet, um wiederum bei Zuschauer*innen Gefühle von Nähe zu erzeugen – ein komplexes und dynamisches Gefüge von Nähe-Distanz-Konfigurationen.

Olga Moskatova fragt in ihrem Beitrag danach, wie sich die Parameter von Nähe und Distanz verschieben und verändern, wenn die Dispositive der Bewegtbildrezeption, wie im Fall von Touchscreens, Haptik und Taktilität umfassen. Als Untersuchungsgegenstände analysiert Moskatova die diegetischen Zukunftsentwürfe der Filme Minority Report (2002) und Blade Runner 2049 (2017) sowie der Folge Safe and Sound (2017) aus der Anthologie-TV-Serie Electric Dreams. Laut der Autorin loten die Szenarien dabei unterschiedliche Ausformungen der Multisensorialität, der Gulliverisierung der Wahrnehmung und der Immunisierung aus, die in den neuartigen Dispositiven angelegt sind.

Der Artikel von Laura Katharina Mücke inspiziert aus rezeptionsästhetischer Perspektive das Phänomen des interaktiven Spielfilms. Mit Blick auf den gemeinhin als ersten interaktiven Film bezeichneten EXPO-Film Kinoautomat (1967) im Vergleich zum zeitgenössischen Netflix-Projekt Bandersnatch (2019) konstruiert der Artikel Interaktivität als Nähe und Distanz erzeugenden Rezeptionsmodus, der im Sinne der relationalen Ästhetik von Nicolas Bourriaud Filme in ihrem situativen und dispositiven Kontext verortet. Die normative Setzung einer entweder aktiven oder passiven Rezeption wird zugunsten eines dynamischen Betrachtungsmodells aufgelöst und dem viel diskutierten Argument der ‹Pseudoaktivität› am Film die teilnehmende Verstrickung als Grundprämisse der Aushandlung der rezeptiven Beziehung zwischen Film und Zuschauer*in entgegengesetzt.

Der Artikel von Franziska Wagner führt die diskursive Umrundung neuer Filmdispositive fort. Die Autorin argumentiert, dass die Wahrnehmbarkeit des Verhältnisses von Nähe und Distanz in einem VR-spezifischen Möglichkeitsraum ein queeres Potenzial eröffnet, das durch Unbequemlichkeitsstrategien der körperlichen Wahrnehmung und damit einhergehenden desorientierenden Momenten intensiviert wird. Im Dispositiv des VR-Films kommt die Verknüpfung von Nähe, Distanz und körperlicher (Des-)Orientierung besonders stark zum Vorschein. Wagner stützt sich in ihren Analysen zweier VR-Filme auf Sara Ahmeds Queer Phenomenology (2006).

Außerhalb des Schwerpunkts gibt Bao Hongwei mit einer Darstellung der historischen Entwicklung des Beijing Queer Film Festivals nicht nur Einblicke in die radikale Filmkultur in China, sondern geht auch der theoretisch wichtigen Frage nach, welche Rolle queere Medien in einem äußerst komplexen Kräftefeld zwischen Neoliberalismus und den Resten des chinesischen Kommunismus, zwischen verschiedenen Formen der Globalisierung und Internationalisierung, zwischen lokalen und gruppenspezifischen Organisationsformen und zwischen den verschiedenen begrifflichen und sprachlichen Ausrichtungen des Festivals spielen können. Bao erweitert die theoretische Reichweite der Untersuchung, indem er auch die räumliche Politik des Festivals in Bezug auf die Veranstaltungsorte und Vorführungen sowie die Nutzung verschiedener Dispositive (sogar Filmvorführungen in einem fahrenden Zug; vgl. Harrison 2017) mit einbezieht.

Fabienne Liptay situiert in ihrem Beitrag zu unserer Reihe «Dispositive » das amerikanische Expanded Cinema der 1960er-Jahre im Kontext künstlerischer Praktiken und Diskussionen, die unter dem Eindruck der ersten Mondlandung nach dem Weltverhältnis des Menschen und dem nun noch denkbaren «menschlichen Maßstab » fragten. Dabei geht es um die kosmischen Weltentwürfe von R. Buckminster Fuller, so seine berühmten geodätischen Kuppeln und dreidimensional faltbaren Weltkarten, um Stan VanDerBeeks Movie-Drome und Jasper Johns monumentalen Beitrag zur Expo 67 in Montreal: um die buchstäbliche Maßstabslosigkeit von Entwürfen, Visionen und Bauten, die Teil einer bislang vernachlässigten Formatgeschichte des (erweiterten) Kinos sind.

Am Ende des Hefts erinnert Hans J. Wulff an den kürzlich verstorbenen Edward Branigan, einen der wichtigsten Filmtheoretiker der vergangenen Jahrzehnte. Auszüge aus seinen Büchern Point of View in the Cinema («Die Point-of-View-Struktur») und Narrative Comprehension and Film («Fokalisierung») finden sich in Montage AV 16/1/2007. In diesem Heft präsentieren wir mit «Anthropomorphismus, Kamerabewegung und der menschliche Körper» einen Abschnitt aus Projecting a Camera, in dem sich Branigan Gedanken darüber macht, auf welche Weisen die Kamera im Film menschliche Eigenschaften simulieren kann und wie sich umgekehrt auch verschiedene Arten nicht-anthropomorpher Kamera unterscheiden lassen.

Guido Kirsten, Stephen Lowry und Laura Katharina Mücke

Literatur

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