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16 / 1 / 2007 Figur und Perspektive (2)

Figur und Perspektive (2)

Editorial (PDF 112 kB)

Jacques Aumont
Der Point of View (PDF 253 kB)

Edward Branigan
Die Point-of-View-Struktur (PDF 310 kB)

Edward Branigan
Fokalisierung (PDF 276 kB)

Jörg Schweinitz
Multiple Logik filmischer Perspektivierung
Fokalisierung, narrative Instanz und wahnsinnige Liebe

(PDF 172 kB)

Margrethe Bruun Vaage
Empathie
Zur episodischen Struktur der Teilhabe am Spielfilm
(PDF 183 kB)

Nicola Dusi
Zorro. Ein transmedialer Held Übertragung, Neudeutung und Remake einer Figur (PDF 294 kB)

Lihi Nagler
Allegorien der Kulturkämpfe
Die Doppelgänger-Figuren in Der Andere (1913) und Der Student von Prag (1913) und ihre Remakes von 1930 und 1926
(PDF 216 kB)

Herbert Schwaab
Act without performance
Cavells filmphilosophische Überlegungen zur Figur im klassischen Hollywoodkino
(PDF 153 kB)

Natascha Drubek-Meyer / Nikolai Izvolov
Textkritische Editionen von Filmen auf DVD. Ein Diskussionsbeitrag (PDF 165 kB)

Editorial

Es ist die Figur, die in vieler Hinsicht als ein Leitfaden des filmischen Erzählens (aber nicht nur des filmischen) dient. Sie bietet während der Rezeption überwiegend den Brennpunkt der Aufmerksamkeit und der emotionalen Einbindung von Zuschauerinnen und Zuschauern. Das ist im vorangegangen Heft von Montage/AV theoretisch vielfältig facettiert, analysiert und diskutiert worden. Einige Autoren haben dabei – freilich eher am Rande – schon auf das Phänomen der filmisch-narrativen Perspektive verwiesen. Diesem Thema möchte nun das aktuelle Heft in einer Reihe von Aufsätzen eingehender seine Aufmerksamkeit zuwenden.

Die Frage nach der Perspektive ist, wie man den Begriff auch eingrenzen mag, stets zentral, nicht allein für das (filmische) Erzählen, sondern vor allem für die narrative Konstruktion von Figuren. Denn der narrativen Konstruktion im Ganzen ist ja von vornherein eine bestimmte Perspektive auf die Figur eingeschrieben. Diese ist alles andere als eine Äußerlichkeit. Sie berührt letzthin die Substanz der Figur. Denn wir Zuschauer erleben Filmfiguren anders als wir Menschen im alltäglichen Umgang erleben. Letztere lernen wir in der praktischen Interaktion kennen, die es erlaubt, uns – bestimmt durch die eigene ‹Perspektive›, die eigenen Interessen, Vorlieben, Maßstäbe und Erfahrungswerte allmählich, vielfach in einem längeren widerspruchsvollen Prozess – ein eigenes Bild des Gegenübers zu entwerfen, das man dann durch eigene Aktivitäten wie Nachfragen oder praktisches Erproben des hypothetischen Bildes im gemeinsamen Handeln interaktiv überprüfen, korrigieren oder verfeinern kann.

Filmfiguren hingegen gehören dem medialen Dispositiv an, das unser Erleben im Kino oder vor dem Bildschirm leitet. Das heißt, die Figuren sind für alle, die den Film sehen, bereits durch die Narration ‹vorperspektiviert›. Natürlich begegnen wir auch ihnen mit unseren Augen und unseren Dispositionen, wir mögen sie vielleicht mehr oder weniger, fühlen uns ihnen nahe oder auf Distanz, erschließen sie auf Grundlage unserer differenten Erfahrungen unterschiedlich tief und mit unterschiedlichen Akzenten; aber jene Merkmale, durch die eine Figur filmisch narrativ konstituiert – und im Kontext der Gesamterzählung funktionalisiert – ist, bleiben unhintergehbar. Jeder Versuch, mehr über sie zu erfahren als der Film zu erfahren gibt, muss scheitern.

Der zuerst von Hugo Münsterberg (vgl. 1996, 51–70) formulierte Gedanke, dass der Film seinem Publikum mentale Arbeit abnimmt und psychische Funktionen wie die Aufmerksamkeitskonzentration (via Großaufnahme) oder die Erinnerung (via Flashback) dem Film gleichsam physisch einschreibt und die Zuschaueraktivität (über den unwillkürlichen Nachvollzug) auf diese Weise im Kern vorprogrammiert – dieser Gedanke gilt cum grano salis auch für die Perspektive, aus der eine Figur durch den Film konstruiert worden ist. Jean Luc Godard lässt in Les Carabiniers (Die Karabinieri, F 1963) seinen kleinen Soldaten ein Kino besuchen. Dort erblickt dieser auf der Leinwand eine attraktive Blondine im Bade. Offenbar von erotischem Interesse gepackt, verlässt er seinen Sitz und stürmt zur Leinwand, wo er versucht, aus erhöhter Perspektive zu sehen, was die vom Film präsentierte visuelle Perspektive, der Blickwinkel der Einstellung, nicht sehen lässt. Er sucht einen Blick auf den nackten Körper der Frau hinter der Vorderfront der Badewanne, die die Sicht versperrt, zu erhaschen. Natürlich scheitert er kläglich und erreicht nur, dass die Leinwand herabstürzt, während der Film ungerührt auf dem dahinter liegenden Mauerwerk mit unveränderter Perspektive weiterläuft. Nicht anders verhält es sich mit jeder Art von Informationen, die der Film uns vorenthält oder die er aus einem bestimmten ‹Blickwinkel› heraus auf eine bestimmte Art und Weise einfärbt. Die vom Film präsentierte Perspektive ist – anders als im Alltag – nicht durch reale Interaktion hintergehbar.

Wie massiv unser Bild von Figuren, unser Wissen über sie durch die jeweils filmisch vorgeprägte Perspektive geleitet wird, erscheint besonders dort schlagend erkennbar, wo extreme oder überraschende Konstruktionen vorliegen. So kann man sich kaum dagegen erwehren, Eisensteins und Pudowkins ‹reaktionäre Bourgeois› hochgradig unsympathisch zu empfinden (selbst dann nicht, wenn man Fragen an das dahinter stehende Geschichtsbild haben mag), da beide Filmemacher ihre Perspektive auf die Gesellschaft in die visuelle Perspektive der Bilder einschreiben. Ein aus Untersicht gefilmtes Gesicht, das aus solchem Blickwinkel zur Hälfte von einem feisten Doppelkinn ausgefüllt wird – das ergibt in unserer Kultur nahezu automatisch einen unintelligenten, unsympathischen, Abneigung produzierenden Ausdruck. Der Blickpunkt bestimmt hier also direkt den narrativen Standpunkt des Films. Aber auch in einem komplexeren Sinne ist die (Erzähl-)Perspektive entscheidend. Wenn eine Geschichte wie in Akira Kurosawas Rashomon (Japan 1950) in mehrfachen Varianten aus unterschiedlicher figuraler Perspektive erzählt wird, dann wird mit einem Schlag klar, in welchem Maße die Konstruktion derselben Figuren in den unterschiedlich perspektivierten Varianten differiert, so dass sie sich sogar von Unschuldigen in Schuldige wandeln können, ohne dass wir Zuschauer eine Chance zur endgültigen, zuverlässigen Entscheidung bekommen müssen. Das zeigt: Die Perspektive aus der (audiovisuell) erzählt wird, ist konstitutiv. Außerhalb der repräsentierten Perspektive(n) gibt es keine Realität der Figur.

Perspektive und Figur sind aber in Erzählungen, literarischen wie filmischen, noch in einem anderen Sinne miteinander verbunden. Filme werden vielfach aus der Perspektive einer Figur oder abwechselnd – wie im eben erwähnten Beispiel von Kurosawa – verschiedener Figuren erzählt (ohne dass damit der optische Blickpunkt gemeint wäre). Häufig macht sich zudem eine Erzählerperspektive bemerkbar, die ohne den Filter einer (privilegierten) zwischengeschalteten figuralen Perspektive auskommt. Am einflussreichsten ist hier wohl Gérard Genette mit seiner Terminologie von der Fokalisierung (vgl. Genette 1998, 132–138 sowie 241–244) Vor allem die «interne Fokalisierung», also jene Form der narrativen Perspektivierung, die sich – grob gesagt – an den Wissens- und Wahrnehmungsstand einer Figur anlehnt, und uns Zuschauer die Ereignisse Zug um Zug gemeinsam mit der Figur, ‹aus ihrer Perspektive›, erleben lässt, weist dabei einen Doppelbezug auf, der unter dem Aspekt der Figurenkonstruktion besonders relevant ist. Zum einen präsentieren intern fokalisierte Erzählungen Informationen über das Geschehen und über andere Figuren, zum anderen lassen sie uns gleichzeitig viel über die Fokalisatorfigur selbst, über ihr Wissen und ihre Art die Welt zu erleben und zu sehen, kennen lernen. Aber auch die beiden anderen Varianten «Null-Fokalisierung» und «externe Fokalisierung» definieren sich in Hinsicht auf die Figur als Fixpunkt des Erzählens. Bei Ersterer haben wir es mit einem vom Wissen, Erleben und Wahrnehmen der Einzelfigur(en) abgelösten Erzählen zu tun, das sich gleichsam auf einer Metaebene (plural und variabel) perspektiviert und tendenziell allwissend präsentiert, wobei es punktuell die unmittelbare Perspektive der erzählenden Instanz einbrechen lässt; bei Letzerer mit einem extern fokalisierten Erzählen, das statt Allwissenheit eher Nichtwissen ausstellt – und zwar Nichtwissen in Hinsicht auf das Denken, Fühlen, den Wissensstand und die Motivlage der Figur. Für die Art, wie über und mit Figuren im modernistischen Kino der 60er und 70er Jahre erzählt wird, ist diese Art der Fokalisierung ausschlaggebend. Wer etwa über die Figurenkonstruktion bei Antonioni sprechen mag, wird allenthalben darauf stoßen, dass es hier ein filmisch vorstrukturierter Rezeptionsimpuls ist, mehr über das Innenleben, über die Motivlage der Hauptfiguren zu erfahren. Im Grunde ist es dieses Interesse, dass uns durch den Film leitet. Man kann in solchen Fällen möglicherweise ohne den Terminus ‹externe Fokalisierung› auskommen, aber kaum ohne auf die hinter diesem Begriff stehende Art der narrativen Perspektivierung der Figur einzugehen.

So einsichtig mit dem Gesagten die Bedeutung des Zusammenhanges von ‹Figur und Perspektive› belegt sein dürfte, so diffus – dieser Einwand drängt sich spätestens jetzt auf – bleibt doch das, was eigentlich unter ‹Perspektive› zu verstehen sei. Tatsächlich ist ‹Perspektive› ein hochgradig metaphorischer Begriff, der sich in unterschiedlichen Zusammenhängen immer neu, different akzentuiert und auf verschiedene Kontexte bezogen auflädt, der mithin polysemisch ist. Die Bedeutung des Wortes reicht vom lebendigen Winkel des Schauens (optischer Blickwinkel) über die erzählerische Perspektive, in dem Sinne wie davon auch in Hinsicht auf literarisches Erzählen die Rede ist, bis hin zu allgemeineren Metaphern, die eher auf das Weltbild, die Ideologie eines Menschen (der Figur oder einer übergeordneten Instanz) zielen, die dessen Wahrnehmung und Denken leiten, also seine weltanschauliche Perspektive bestimmen.

Diese hier nur anzudeutende Bedeutungsvielfalt produziert natürlich immer wieder theoretische Probleme, wenn es um die Schärfung des Begriffs geht. Das ist schon der Fall, wenn es ausschließlich um die erzählerische Perspektive und dies nur im Kontext literarischer Narration geht. Alle im Zeichen des Strukturalismus vorgenommenen Versuche, für eine so komplexe, also extrem vielschichtige und dabei historisch äußerst dynamische Materie, wie es das literarische Erzählen ist, eindeutige und trennscharfe Begriffssysteme zu schaffen, mussten zwangsläufig scheitern. Bewährt hat sich unseres Erachtens vor allem Genettes Begrifflichkeit, die – sofern man sie mit leichter Hand und im methodenkritischen Wissen um ihre Grenzen – benutzt, in der konkreten analytischen Arbeit helfen kann, narrative Eigentümlichkeiten einzelner Narrationen aufzudecken und sprachlich zu fassen. Wenn darüber hinaus regelmäßig Versuche unternommen werden, diese Begrifflichkeit weiter zu schärfen oder zu ersetzen – wie es etwa Chatman mit seinen die Genette’sche Fokalisierung ersetzenden Kategorien «slant», «filter», «center» und «interest-focus» (Chatman 1990, 139–160) tut – so tragen diese viel zum Problembewusstsein im Feld der narratologischen Kategorienbildung bei und lenken den Blick auf theoretische Defizite der Vorgänger, erweisen sich bei genauerer Hinsicht aber kaum widerspruchsfreier und trennschärfer als die kritisierten Vorbilder.

Diese Problemlage multipliziert sich noch einmal mit dem Film als audio­visuellem Medium des Erzählens. Denn der Film kennt ‹Perspektive› eben nicht nur im metaphorischen Sinne, er weist nicht nur in dem Sinne eine Erzählperspektive auf wie die Literatur auch, sondern er zeigt eben auch Bilder, die naturgemäß eine bestimmte visuelle Perspektive auf den Bildraum (oder in ihn hinein) verkörpern. Diese Art der ‹Perspektive› ist nun aber keinesfalls sorgfältig abtrennbar von der narrativen Perspektive (der Fokalisierung). Denn entsprechend perspektivierte Einstellungen können einerseits in Point-of-View-Strukturen geraten und so die optische Perspektive einer Figur repräsentieren, sie erlangen aber andererseits auch ganz allgemein als Informationsträger unmittelbare narrative Bedeutung, nicht nur dort, wo sie wie bei Eisenstein durch extreme Blickwinkel Figuren charakterisieren. Es bietet sich daher an, eine Anregung von François Jost ausbauend,1 eine grundlegende Unterscheidung zu treffen zwischen einer handlungslogischen Fokalisierung (oder Perspektivierung), die durch die Logik der gesamten Plot-Organisation geregelt wird, und einer perzeptionslogischen, vor allem bildlogischen (ggf. aber auch tonlogischen) Perspektivierung. All dies mag wiederum helfen, die narrative Konstruktion von Filmfiguren genauer zu analysieren. Denn zu sehen, was die Figur gesehen hat – es in einer Point-of-View-Einstellung gleichsam mit ihren Augen zu sehen –, das kann einen bedeutungsvollen Unterschied ausmachen gegenüber jenem Fall, in dem man visuell nur indirekt am Erleben der Figur teilhat. Meist ist es aber angebracht, in umgekehrter Richtung zu argumentieren: Der Point of View wird vielfach als Mittel der Subjektivierung des filmischen Erzählens überschätzt.

Das vorliegende Heft von Montage/AV taucht nun im Hauptteil tief in die Theoriediskurse um Perspektivierung resp. Fokalisierung ein. Nahezu alle im Heft zu diesem Thema vertretenen Texte leisten einen Beitrag zur begrifflichen Differenzierung und systematischen Beschreibung des vielschichtigen Gegenstandes, der mit dem Begriff der ‹Perspektive› für die Theorie der Filmnarration ins Spiel kommt. Dabei überlagern sich verschiedene theoretische Ansätze und Begriffssysteme. Es ist nicht unsere Absicht, eine verbindliche Terminologie zu propagieren; interessanter für die theoretische Durchdringung des Phänomens ist die von den jeweiligen Autoren vorgenommene sachliche Aufgliederung des Untersuchungsgegenstandes. Dennoch kreisen die ersten vier Beiträge aus unterschiedlichen Blickwinkeln um die Differenzierung zwischen einer handlungsorientierten und einer bild-/tonorientierten Logik des Erzählens.

Es entspricht der Tradition der Zeitschrift, dass in den Themenheften auch ‹Theorieklassiker› erstmals in sorgfältiger deutschsprachiger Edition zugänglich gemacht werden. Wir würden uns freuen, wenn dies – ebenso wie die Lektüre der eigens für dieses Heft verfassten Studien – dazu anregte, noch mehr als bisher mit Montage/AV-Themenheften im Seminar zu arbeiten. Der Status des Theorieklassikers betrifft diesmal gleich drei Texte: Jacques Aumonts erstmals 1983 erschienenen Aufsatz «Der Point of View», der aus dem Französischen übersetzt wurde, sowie die aus dem Amerikanischen übertragenen zwei Texte von Edward Branigan.

Ausgehend von der perspectiva artificialis der Malerei, deren Veränderung er vom 15. bis zum 20. Jahrhundert nachzeichnet, diskutiert Jacques Aumont zunächst eingehend die Polysemie des Begriffs ‹Point of View› als Metapher des Blicks, wobei er auch die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bestehende literarische Auffassung der narrativen Perspektive in sein filmtheoretisches Modell integriert. Er unterscheidet vier Bedeutungen des Ausdrucks bei seiner Übertragung auf den Film: den Kamerastandpunkt in Bezug auf den betrachteten Gegenstand, der im Kino schon früh als variabler eingesetzt worden ist; die Ansicht, die (meist) einen zentralperspektivisch organisierten Fluchtpunkt in sich birgt und den Widerspruch zwischen flächigem Bild und räumlicher Tiefe beinhaltet; die narrative Perspektive, die im Erzählkino immer mehr oder weniger einen Blick repräsentiert, sei es den des Filmemachers oder den einer Figur; und die mentale Haltung, die er prädikativ nennt, da sie immer in einer gewissen Weise eine Wertung ins Spiel bringt, ein Urteil des ‹Autors› über seine Figuren, das nicht nur diese, sondern bisweilen die gesamte filmische Darstellung überformt. Anhand vielfältiger Beispiele legt Aumont dar, dass der Weg vom Kinematografen zum Kino gekennzeichnet ist vom Bemühen um die Anordnung und Justierung von konkurrierenden Erzählinstanzen und verschiedenen Sichtweisen auf ein Ereignis – ein Spannungsfeld, in dem sich die Blicke der Figur, des Autors und des Zuschauers überlagern und zwar in der doppelten Perspektivierung der Narration und des imaginären Bildraumes.

Edward Branigans Text «Die Point-of-View-Struktur» ist die deutsche Übersetzung des gleichnamigen Kapitels aus seinem 1984 erschienen Buch Point of View in the Cinema. Dieser in den USA viel gelesene Text widmet sich einer minutiösen Strukturanalyse von Anwendungsvarianten des Point of View. Dafür entwirft Branigan ein Schema aus sechs Elementen, die eine klassische Point-of-View-Struktur kennzeichnen, und analysiert anhand zahlreicher Filmbeispiele, auf welch unterschiedliche Weisen diese Grundelemente filmisch realisiert werden oder welche Effekte das Auslassen oder Verschieben einzelner Elemente hat, wie in solchen Fällen dennoch Kohärenz geschaffen werden kann oder wie und mit welchen Folgen mit der Struktur absichtsvoll gebrochen wird. Nachhaltig unterstreicht er, wie wichtig der gesamte Kontext (in der Relation zwischen Kamera, Figur und Objekt – in Verbindung mit der Hypothese des Zuschauers über diese Relation) dafür ist, dass ein Bild als Point-of-View-Einstellung gilt und dass sich die Erzählperspektive selbst ohne einen Schnitt ändern kann. Mit Hingabe geht Branigan abschließend dem kreativen Umgang mit solchen Strukturvarianten wie dem retrospektiven, dem prospektiven oder dem verzögerten Point of View nach.

Während Branigan in diesem Text klar bei der bildlogischen Ebene des Themas ansetzt, wendet er sich in dem zweiten hier aufgenommenen Text – die Übersetzung des Kapitels «Fokalisierung» aus seinem 1992 veröffentlichten Buch Narrative Comprehension – unter ausdrücklichem Bezug auf Genettes Fokalisierungsbegriff vor allem Fragen der filmischen Inszenierung einer Erlebensperspektive (die nicht mit der visuellen Perspektive der Point-of-View-Struktur verwechselt werden darf) zu, und damit der zweiten Seite jenes Paars, das wir mit den Begriffen von bild- und handlungslogischer Perspektivierung resp. Fokalisierung zu erfassen suchen.

Jörg Schweinitz (Potsdam) sucht in seinem Beitrag, den Fachdiskurs resümierend, eben dieses Begriffspaar grundsätzlicher auszuarbeiten und geht auch auf den Sinn der Differenzierung zwischen Erzählinstanz und Fokalisator in Hinsicht auf die filmische Narration ein. Dabei wird unter anderem die umstrittene Frage nach der Erzählerposition im Film diskutiert und die gewonnene Begrifflichkeit analytisch auf den neueren französischen Film À la folie ... pas du tout (Wahnsinnig verliebt, F 2002, Laetitia Colombani) übertragen, dessen Attraktion im Raffinement des audiovisuellen (unzuverlässigen) Erzählens liegt, das hier vor allem auf einem Spiel mit den unterschiedlichen Facetten der Perspektive beruht.

Verbindungen zum Thema ‹Perspektive› stellt auch Margrethe Bruun Vaage (Oslo) in ihrem Aufsatz zur «imaginativen Empathie» her. Sie interessiert sich für diesen Modus der Teilhabe an Filmfiguren als einem eher episodischen (das heißt, sich während der Filmrezeption ständig neu ausdifferenzierenden) Prozess und dabei besonders für Episoden bewusst gefühlter Empathie, in denen die Zuschauer nicht allein nachvollziehend erfassen, in welchem emotionalen Zustand sich die Figur befindet, sondern gleichzeitig in der Lage sind, über diese Gefühle zu reflektieren. Bruun Vaages Interesse an dieser Pendelbewegung zwischen Innen- und Außen­position lässt sie nach Berührungspunkten zwischen kognitiver Theorie und Narrationstheorie fragen, und so debattiert sie unter anderem, wie Point-of-View-Strukturen und andere Formen der narrativen Subjektivierung die empathische Rezeption stützen.

In das Heft fanden drei weitere Texte Aufnahme, die nicht unmittelbar zum Thema der narrativen ‹Perspektive› gehören, wohl aber die im vorangegangen Heft vorgenommene Thematisierung der filmischen Figur fortsetzen und sich dabei aus ganz unterschiedlicher Theorieperspektive dem Phänomen annähern.

So beschäftigt sich der italienische Mediensemiotiker Nicola Dusi in seinem Aufsatz über ‹Zorro› aus kultursemiotischer Sicht mit dem Remake einer Figur. Seine Analyse dieses transmedialen Helden stellt er in einen theoretischen Rahmen, der das filmische Remake als Netzwerk von intertextuellen Ableitungen in verschiedenen soziokulturellen Kontexten erfasst und insbesondere die Beziehung zwischen Figur und narrativen Strukturen beleuchtet. Er diskutiert das Problem der ‹Nachbildbarkeit› im Wechselspiel zwischen Wiederholung und Variation und entwickelt das Konzept der intermedialen Matrix der Übertragung. Anschaulich legt er dar, wie sich die populäre Figur ‹Zorro› durch die Zeit und verschiedene Medien (literarische Erzählungen, Filme, Comics und Fernsehfilme) hindurch verändert und dennoch bestimmte distinktive Merkmale beibehält, die ihr mediale Beständigkeit und Wiedererkennbarkeit garantieren und sie als soziosemiotischen Helden charakterisieren.

Die israelische Filmwissenschaftlerin Lihi Nagler widmet sich in ihrem Aufsatz den Doppelgänger-Figuren, die aus dem deutschen Stummfilmkino stammen und bis hinein in die frühen Tonfilme in Remakes wiederkehren. Der seit Kracauer etablierten soziopsychologischen Lesart, darin Symtome für die problematische deutsche Mentalität jener Zeit zu sehen, stellt sie einen Ansatz gegenüber, der in der – an die romantische Literatur angelehnten – Affinität zu Doppelgängerfiguren sowohl den Versuch sieht, das populäre Kino mit dem traditionellen Kunstbegriff zu verschmelzen, als auch eine Metapher der Verunsicherung, die gut zum gespaltenen Verhältnis passt, das viele Kunstschaffende, die sich dem Erfolgsmedium Kino zuwandten, gegenüber dem neuen Medium hatten. Naglers Text verbindet konzeptionell die historische Analyse der in der Kinodebatte zum Ausdruck kommenden gespaltenen Haltungen etablierter Künstler und Intellektueller gegenüber dem neuen Medium mit einer Filmlektüre als allegorischem Spiel.

Herbert Schwaab (Bochum) schließlich geht filmphilosophischen Überlegungen von Stanley Cavell zur Figur im klassischen Hollywoodkino nach. Dabei interessiert besonders, wie filmische Figuren zu Reflektoren für das Alltagsleben der Zuschauer werden. Nicht die narrative Funktion der Figuren steht mithin im Zentrum, sondern Momente besonderer Intensität, in denen Figuren etwas auf eine solche Weise erleben, dass es zugleich zu einer intensiven Erfahrung für die Zuschauer wird. Ein Ausgangspunkt des Arguments ist die Beobachtung, dass der Film Figuren zwar unzugänglich mache, dass diese aber gerade durch den so erlangten Status als «human something» Grund­aspekte des menschlichen Seins sichtbar werden lassen. Für Cavell realisiert sich dies besonders im klassischen Hollywood-Film, der einen Modus des ‹Schauspielens ohne Darstellung› etabliere. Über den Vergleich der Ansätze von Cavell und Richard Dyer sucht Schwaab herauszu­arbeiten, dass gerade die Verzahnung von Star-Persona und Rolle zu einer authentischen Individualisierung führt. Das Nachdenken der Zuschauer über die Figur könne so zu einem Modus des Weltbezugs werden.

Einen letzten Beitrag drucken wir – seiner Aktualität wegen – schließlich außerhalb unseres Schwerpunktes Figur und Perspektive ab. Natascha Drubek-Meyer und Nikolai Izvolov stellen einen neuen, von ihnen entwickelten Ansatz zur historisch-kritischen Edition von Spielfilmen vor. Ausgehend von der Überzeugung, dass Filmeditionen auf DVD sich an vergleichbaren Kriterien orientieren müssten wie Editionen von Texten, schlagen sie in Anknüpfung an die literaturwissenschaftliche Schule der Textologie vor, das audiovisuelle Material in zwei Kategorien, textus und apparatus, zu organisieren, von denen die erste den Film in seinen verschiedenen Versionen enthält, die andere Drehbücher, archivarische Referenzen und weiteres Material, das zur Kommentierung des Films herangezogen werden kann. Der Aufsatz leistet einen wichtigen Beitrag zu einer Diskussion, die mit der Trierer Konferenz Celluloid Goes Digital: Historical-Critical Editions of Films on DVD and the Internet im Jahre 2003 begonnen wurde, seitdem aber kaum zur Herausbildung eines neuen Arbeitsfeldes geführt hat.

Jörg Schweinitz und Margrit Tröhler

Literatur

Chatman, Seymour (1990) Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Cinema. Ithaca/London: Cornell University Press.
Genette, Gérard (1998) Die Erzählung [franz. 1979/1983]. München: Fink.
Jost, François (1984) Le regard romanesque: ocularisation et focalisation. In: Hors Cadre 2, S. 67–85.
– (1989) L’œil-caméra: entre film et roman. Lyon: Presses Universitaires de Lyon.
Münsterberg, Hugo (1996) Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Film. Hg. v. Jörg Schweinitz. Wien: Synema

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