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32 / 01 / 2023 Mode

Mode

Editorial: Mode und Film – Verwobenes

Marie-Aude Baronian
Vom Auspacken eines Schrankkoffers
Über Kostüm und Imagination

Jeanpaul Goergen
Mode und Film um 1919
Aspekte einer vielgestaltigen Beziehung

Evelyn Echle im Gespräch mit Marketa Uhlirova
«Geschmack lässt sich kaum vom Kuratieren trennen.»
Über das Londoner Fashion in Film Festival

Bianka-Isabell Scharmann
Entfalten und Reformatieren
HORS-CHAMP (2021) von und mit Hermès

Sigrun Lehnert
Vom Luxushotel zur Fabrikhalle
Mode auf den ‹Laufstegen› der west- und ostdeutschen Kino-Wochenschau (1950–1965)

Christine Noll Brinckmann
Signifikante Mode in Fassbinders MARTHA

ARTIKELREIHE «DISPOSITIVE»

Henning Engelke
Brakhages Dispositiv und die Historiografie des Experimentalfilms

AUSSERHALB DES SCHWERPUNKTS

Matthias Brütsch
Beiseitesprechen und unzuverlässiges Erzählen in FLEABAG, ALFIE und I, TONYA

Patrick Vonderau
Mikroanalyse
Thesen zu einem Forschungsfeld

Call for Papers
Mikroanalyse – Mikrogeschichte – Mikrostudien

IN MEMORIAM

Wilhelm Roth
Von Kay Hoffmann

Hans Helmut Prinzler
von Gerd Gemünden

Editorial
Mode und Film ‐ Verwobenes

Tom Ford verkündete Ende April 2023 das Ende seiner Karriere als Modeschöpfer. Das war zwar erwartet, aber nicht auf diese Weise: Der Texaner, der seit den 1990er-Jahren etablierten Haute-Couture-Häusern wie Yves Saint-Laurent oder Gucci zu neuer Frische verholfen und nebenbei unter eigenem Namen ein Mode-Milliardenimperium geschaffen hatte, nahm seinen Abschied nicht mit der in der Branche üblichen tiefen Verbeugung auf dem Laufsteg nach der Präsentation einer spektakulären letzten Show vor illustren Frontrow-Gästen. Ford entschied sich stattdessen für das Medium Film. Drei kurze Videos zeigen seine finale «Archive Collection», die über die Homepage seines Labels abrufbar sind.1 Die Inszenierung ist medien- und modereflexiv aufschlussreich: Tom Ford taucht aus dem Dunkel vor und hinter beleuchteten Schaufenstern auf, in denen Supermodels wie Amber Valletta oder Karlie Kloss grell erleuchtet seine neu interpretierten Icon-Pieces tragen. Innerhalb dieser strengen, mehrfachen Kadrierung entspinnt sich ein doppelbödiges voyeuristisches Spiel: Ford dirigiert die Models wie ein Regisseur, bleibt aber meist unklar in der hinteren Zone des Bildes, schreitet an seinen Entwürfen entlang, betrachtet sie wie ein Zuschauer. Die Schauanordnungen von Laufsteg und Schaufenster werden durch die Blickpositionen der Kamera und die Lichtdramaturgie (hell ausgeleuchteter Schau- und abgedunkelter Zuschauerraum) immer wieder ausgetauscht und verkehrt. Die geschlechtsspezifischen Positionen von «image» und «bearer of the look» (Mulvey 1975) bleiben von diesen Umkehrungen, die «Archive Collection» vornimmt, unangetastet und klassisch verteilt:



1–2 Tom Fords ARCHIVE COLLECTION, Herbst 2023/24.

Selbst in der Schlussszene, in der Ford wie auf einem Laufsteg in die Tiefe des Raums verschwindet, bleibt er aktiver Handlungsträger, während die weiblichen Models– in den Schaukästen hinter Glas wie gefangen– geradezu ohnmächtig seinem Abgang beiwohnen müssen. Nach einer theatralischen Zuspitzung der Inszenierung mit Tränen, Wut und Verzweiflung der Models verschwindet Ford ins diffuse Schwarz des Off, unterlegt mit Opernmusik und dem diegetischen Klackern seiner Absätze.

I.

Tom Fords medialer Abgang lässt sich auch als Kommentar auf die Frage nach dem Verhältnis von Medien und Mode lesen. So lädt die medien- und modereflexive Inszenierungsweise der Videos nachgerade dazu ein, Überschneidungen und Berührungspunkte zwischen Mode und Film– als Industrien und Teil-Öffentlichkeiten, als ästhetische und kulturelle Praktiken– in den Blick zu nehmen. Bereits für Fords frühere Arbeiten war die Verknüpfung von Inszenierung und Dramaturgie, das Interesse für die (Des-)Arrangements der Zurschaustellung immer zwingend, weshalb er sich nicht nur als Modeschöpfer, sondern auch als Filmregisseur begriff. Seine beiden Spielfilme A Single Man (USA 2009) und Nocturnal Animals (USA 2016) wurden vielfach gelobt, die Oscar-Nominierungen für die Hauptdarsteller:innen taten ihr Übriges für den Erfolg.

Dass Regisseur und Modeschöpfer hier in Personalunion zusammenfallen, ist sicherlich eher eine Ausnahme; häufiger wurden legendäre Kooperationen zwischen Filmemacher:innen und Modedesigner:innen für das Narrativ einer gemeinsamen Geschichte von Film und Mode mobilisiert – etwa die Zusammenarbeit von Christian Dior und Alfred Hitchcock für Stage Fright (USA 1950), Chanel und Alain Resnais für L’Année dernière à Marienbad (1961), Jeanpaul Gauthier und Luc Besson für Le Cinquième Élément (F 1997), Manolo Blahnik und Sofia Coppola für Marie Antoinette (USA 2006) oder Miuccia Prada und Baz Luhrmann für Elvis (USA/AUS 2022) – um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Zusammenarbeiten setzen zumeist auf auffällige und extravagante Kreationen, häufig als «künstlerische» Verzahnung von modischer und filmischer «Handschrift» ausgewiesen. Sie waren natürlich auch durch kommerzielle Interessen motiviert, die einerseits darin bestanden, Spielfilme mit Schau- und Produktionswerten der Mode anzureichern und andererseits Modehäusern und Designern populärkulturelle Sichtbarkeit zu verschaffen.

Quer zu diesen Narrativen der big names und der damit verbundenen Legendenbildung lässt sich die Mediengeschichte der Mode auch über die spezifischen Formate und Genres in den Blick nehmen, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten an den Schnittstellen von Mode und Bewegtbild ergeben – seien es die Konfektionskomödien der 1910er- und 1920er-Jahre (Ganeva 2007), Werbe- und Industriefilme von Mode- und Textilunternehmen, Übertragungen oder Mitschnitte von Live-Modenschauen, Fernseh- Castingshows wie Next-Top-Model (seit 2003), Project Runway (seit 2004), Next in Fashion (seit 2020) oder Fashion Blogs auf Social Media. Zuletzt haben sich die Aushandlungen stark auf sogenannte Fashion Films konzentriert. Der Begriff verweist auf ein kürzeres Film- oder Videoformat, das – im rudimentärsten Sinne – Mode zum Thema und sinnlich erfahrbar macht (Rees-Roberts 2018 und 2020, Uhlirova 2013). Eine genaue Ein- oder Abgrenzung bleibt indes schwierig, da sich die Fashion Films auf einer weit angelegten Skala zwischen ostentativer Werbung (produziert und eingesetzt von Modelabels) und künstlerischem Experimentalfilm bewegen und in unterschiedliche Zirkulations- und Verwertungskontexte eingelassen sind: Sie werden im Internet (auf Webseiten von Modelabels oder Video-Plattformen), in Kinos (bei künstlerisch ambitionierten Filmfestivals) oder auch in Museen (bei Modeausstellungen) sehr unterschiedlich gerahmt und rezipiert. Eben diese Unschärfe scheint zugleich symptomatisch für viele Medienformate der Mode, in denen kommerzielle und ästhetische Interessen eng miteinander verknüpft sind.

Affinitäten von Mode und Bewegtbildmedien können mithin auch dort eine Rolle spielen, wo Kleider und Stoffe gar nicht sichtbar ins Bild treten – etwa in den Analogien zwischen textilen Stoffen und Metaphern filmischer Materialität, die im Sprechen über Filmpraxis und -theorie häufig bemüht werden, angefangen bei Montage- und Schnitttechniken, die das Trennen und Zusammensetzen einzelner Frames analog zum Nähen beschreiben, bis hin zur Verwendung ähnlicher Materialien (Echle 2023): Zelluloid kam um 1900 nicht nur als Filmmaterial, sondern auch für die Herstellung von Kleidung zum Einsatz, beispielsweise für Korsettstäbchen, wasserdichte Hemdkragen, Manschetten und «falsche» Hemdvorderseiten (Leslie 2013, 34). Auch die Geschichte der Kolorierung des Filmbildes von Handkolorierung über Tinting und Toning oder Schablonenkolorierung bis hin zu kameratechnischen Verfahren ist eng verbunden mit technologischen Entwicklungen des Färbens in den Mode- und Textilindustrien.

Mit Roland Barthes setzte sich die Ansicht durch, über die Darstellung von Gegenständen wie Kleider und Schmuck könne ein Zugang zu den Mythen des Alltags (1964) vermittelt werden und somit eine Freilegung der in der Populärkultur verankerten Ideologien erfolgen. In seinem späteren Werk Die Sprache der Mode differenziert Barthes Mode als Kommunikationsakt:

Mit dem Übergang zur schriftlichen Kommunikation wird die Mode zu einem autonomen kulturellen Objekt mit eigener Struktur und wahrscheinlich auch neuer Zielsetzung; die sozialen Funktionen, die der Kleidermode gewöhnlich beigelegt werden, werden durch andere ersetzt oder ergänzt, die denen der Literatur ins gesamt analog sind und die sich in wenigen Worten wiedergeben lassen: seitdem die Mode von der Sprache übernommen wurde, ist sie Erzählung. (1985 [1967], 283; Herv. i. O.)

Barthes’ Engführung von Mode und Sprache ist kein Zufall: das lateinische texere (weben) ist der Ursprung unserer Worte «textil» und «Text». Die metaphorische Bedeutung des «gewebten Textes» als textus spielt seit der Antike eine zentrale Rolle. Spezifische Techniken wie Weben und Spinnen stehen traditionell für Ordnungsvorstellungen wie Schicksal, Poesie oder das «Weltgewebe». Als Material und Medium stellt die Kleidung einen der ältesten und wichtigsten Bereiche der Kulturgeschichte dar, sowohl in funktionaler als auch in ästhetischer Hinsicht.

II.

Dass Tom Ford für seine «Archive Collection» auf das Medium des Bewegtbilds zurückgreift, lässt sich in einer zweiten Lesart noch einmal anders wenden und in Bezug setzen zu Debatten, die unter Schlagworten wie «disappearing catwalk» (Geczy/Karaminas 2016) eine zunehmende Verschiebung von Mode in audiovisuelle Medien konstatieren wollen. Als wichtigem Meilenstein wird dabei häufig auf Alexander McQueens live-gestreamte Modenschau zur Kollektion «Plato’s Atlantis» verwiesen, welche 2009 eine weitgreifende streaming revolution für die Modewelt einläuten sollte. Während die Inszenierungs- und Präsentationsweisen erstaunlich konstant blieben, sind die Strukturen der Mode-Öffentlichkeiten von grundlegenden Veränderungen erfasst: Auf Social-Media- und anderen User-orientierten Plattformen scheint eine sehr viel größere Anzahl von Akteur:innen an der Herstellung von Mode-Bildern mitzuwirken (Kamneva-Wortmann 2023); Rollen und Funktionen, die im Mode-System vormals klar (und hierarchisch) voneinander getrennt waren – etwa Grenzlinien zwischen Designer:in und Kund:in, werden tendenziell durchlässiger. Das versinnbildlicht Tom Fords «Archive Collection », wenn der Designer zugleich als Zuschauer in Erscheinung tritt.

Diese Verschiebungen berühren nicht allein die Präsentations- und Vermarktungsweisen von Mode, sondern auch das, was «als Mode» hergestellt, vertrieben und getragen wird. So verkauft das Amsterdamer Modelabel The Fabricant, dessen Gründer Kerry Murphy selbst vom Animationsfilm kommt, erfolgreich virtuelle Kleidung. Digital-only oder NFT fashion liefert Datensets, mit denen Avatare der User:innen eingekleidet oder die als Filter über die eigenen Film- und Fotodateien gelegt werden können. Auch im Bereich der Gaming Culture setzen High-Fashion-Labels ihre digitalen Designs ein. So konnten Spielerinnen des Koop-Survival-Shooter-Games Fortnite ihre Lieblingsfiguren mit Outfits der Luxusmarke Balenciaga ausstatten.2 Wer diese Tendenzen (im Sinne eines in Mediendiskursen wiederkehrenden, romantischen Topos) als «Demokratisierung » von Mode oder als Chance auf größere «Diversität» zu apostrophieren sucht, unterschätzt und übersieht die komplexen Wertigkeitssysteme, die in digitalen Aufmerksamkeitsökonomien am Werk sind.3

Der Blick in die Geschichte von Mode und Film, wie wir ihn mit diesem Heftschwerpunkt auffächern, sucht diese Verschiebungen in eine umfassendere historische Perspektive zu setzen. Dies soll zeigen, dass kaum von einem «Verschwinden des Catwalks» die Rede sein kann – weder im Sinne einer linearen Ablösung von Live-Präsentationen durch mediale Formate noch im Sinne einer Auflösung von Mode im virtuellen Raum. Solche Narrative greifen schon allein deshalb zu kurz, weil «Mode» in Gegenstandsbereich, Begriffen und Praktiken immer schon sehr viel vielschichtiger, beweglicher und enger mit Medien verwoben war, als es Formeln vom «Verschwinden des Catwalks» suggerieren.

Gerade die (Medien-)Geschichte des Laufstegs ließe sich als Beispiel für die Verwobenheit einbringen: Zwar avancierte er im 20. Jahrhundert zu einem hochaufgeladenen symbolischen Ort, an dem sich Schauanordnungen und Machtgefüge der Mode verdichten; dennoch waren Öffentlichkeiten von Mode nie auf einen spezifischen Ort oder ein Medium festgelegt (Lehnert 2012). Als sich Modenschauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur kulturellen Praxis herausbildeten, kamen sie in diversen sozialen Räumen zur Aufführung: auf Boulevards und in Parks, neben Pferderennbahnen, in Modesalons oder Kaufhäusern (Evans 2013). Es waren weniger die Räume, Medien oder Akteur:innen selbst, sondern vielmehr das Arrangement von Zurschaustellung, Blickanordnung und gestischem Repertoire, das Modenschauen zu einer identifizier- und zitierbaren kulturellen Praxis machte.



3–4 CHEZ LE GRAND COUTURIER (F 1927): Mode jenseits des Laufstegs

Diese wurden rasch transmedial wirksam – in Zeitschriften, Verkaufskatalogen, auf Theaterbühnen und in Filmen. Gerade die frühen «walkies» (Evans 2011), Modepräsentationen in Wochenschauen ab den 1910er- und 1920er-Jahren, hoben in ihren Inszenierungsweisen geradezu demonstrativ Ubiquität und Beweglichkeit der Mode hervor. In dem Wochenschau-Beitrag Chez le grand Couturier (F 1927), aus dem auch das Cover-Motiv zu diesem Heft stammt, treten die Models nicht nur im Vorführraum des Mode-Ateliers auf, sondern auch in einem modernen Damen-Salon, beim Herbstspaziergang im Park oder beim Bummel an den Strandpromenaden der Côte d’Azur (Abb. 3 und 4). Die Präsentation der Kleider erfolgt betont beiläufig, als würde sie sich «zufällig» aus den inszenierten Settings des (bürgerlich-weiblichen) Alltags ergeben. Viele der Szenen zeigen Models in kleineren Gruppen beisammenstehen; sie unterhalten sich, führen sich dabei ihre Kleidungstücke – etwa ein plissiertes Cape in Rückenansicht – vor.4 Das Betrachten ist in diesen Sujets zumeist schon mitinszeniert; zugleich heben auffällige Kolorierungen einzelne Stücke aus den Szenen heraus (Abb. 5 und 6). Andere Wochenschau-Beiträge setzten noch deutlicher auf die spektakulären Effekte in der Verbindung von Mode, Modernität und Mobilität, wenn sie Mannequins auf fahrenden Autos oder an Deck eines Schiffes inszenierten. Umgekehrt konnten Filmszenen auch dort als Modenschau gelesen werden, wo dies nicht explizit durch Dispositiv, Genre oder Filmhandlung markiert war. So zeigt Mila Ganeva am Beispiel von Brigitte Helms Yoshiwara-Tanzszene aus Metropolis (Fritz Lang, D 1927), wie Referenzen auf Modenschauen auf subtextueller Ebene wirksam werden können – über den Einsatz spezifischer Blickanordnungen, Anleihen beim gestischen Repertoire von Mannequins und das demonstrative Zurschaustellen von Kleidern und Stoffen als Mode:

The focus on selected scenes that are choreographed in the style of a fashion show confirm that fashion constituted not only an important subtext in many Weimar films but also a spectacle within the spectacle of cinema, a brief, interruptive moment of pure visual pleasure within the narrative. (Ganeva 2008, 141)

In diesem Sinne wäre Mode als Blick- und Inszenierungsmodus zu verstehen, der in Filmen mitunter auch nur für einen Moment aufblitzen kann – wenn die Kamera ein bisschen länger als notwendig auf einem imposanten Pelz oder einem mit Perlen bestickten Kragen verharrt, wenn Lichtreflexe eines Satinstoffs oder glitzernde Pailletten zum zentralen Schauwert einer Einstellung werden.



5–6 CHEZ LE GRAND COUTURIER (F 1927): Nebeneinander von Beiläufigkeit und Demonstration.

Auch mit Blick auf zeitgenössische Medienpraktiken ließen sich diese Inszenierungsmodi auf vielfältigen Ebenen wiederfinden. Damit wäre eine Perspektive eröffnet, die linearen und eindimensionalen Formeln wie die vom «Verschwinden des Laufstegs» durch eine Herangehensweise ersetzt, die nach Formen des Nebeneinanders fragt, nach den vielfältigen Überlappungen von Mode und Film – auch in ihrem historischen Wandel und den damit verbundenen Prozessen der Reformatierung.

III.

Ganz in diesem Sinne nehmen die Beiträge unseres Schwerpunkts das Thema «Mode» als integralen Bestandteil von Film- und Medienkulturen in den Blick. Sie loten die enge Verwobenheit von ästhetischen, sozialen und kommerziellen Anliegen aus, fragen danach, wie mit Kleidern und Stoffen spezifische mediale und bildstrategische Inszenierungsformen, Momente eines haptisch-sinnlichen Filmerlebens oder auch ein individuelles oder kollektives Erinnern adressiert werden. «Mode», so zeigen die Beiträge, akzentuiert den Blick auf Bewegtbilder in spezifischer Weise: Während die Rede von «Kostüm» daran erinnert, Stoffe und Kleider als Teil einer Inszenierung zu lesen, während der Begriff der «Kleidung» eher Gebrauchszusammenhänge des Textilen und seine sozialen Markierungen betont, ist mit «Mode» mehr noch nach spezifischen Arrangements der Körper und Stoffe, nach ihren spezifischen Schauwerten, Adressierungsweisen und außerfilmischen Verwertungskontexten gefragt (Köhler 2020). Zugleich sind die Logiken von Mode, Kostüm und Kleidung eng aufeinander bezogen. So setzt etwa das Kostümdesign in hohem Maße auf die kulturelle und soziale Kodierung von Kleidung; für die Figurenzeichnung in fiktionalen Universen ist wiederum die von der Mode geprägte Dichotomie von Zugehörigkeit (Homogenisierung) und Individualisierung (Differenzierung) zentral. Innerhalb dieses Spektrums nehmen die einzelnen Beiträge je eigene Akzentuierungen vor:

Am Beispiel der armenischen Schauspielerin und Genozid-Überlebenden Aurora Mardiganian fragt Marie-Aude Baronian nach dem Schwellenstatus von Filmkostümen als materiellen und imaginären Objekten. Gerade der leer überlieferte Reisekoffer der Schauspielerin, so Baronian, fordere dazu auf, die vorfindbaren Materialien durch eine Reflexion der Leerstellen zu ergänzen. Mardiganians Memoiren wurden 1919 mit ihr in der Hauptrolle als US-amerikanische Hollywood-Produktion Auction of Souls aufwändig und effektvoll verfilmt. Gerade dort, wo der Film aktivistisch eingesetzt wurde, um für Unterstützung der armenischen Waisen und Flüchtlinge zu werben, sollten die Kostüme (sowohl jene, die Mardiganian im Film trug als auch jene, die bei Premieren und Presseterminen zum Einsatz kamen) das Gezeigte «beglaubigen», zugleich Vertrautheit durch ethnische Klischees und christliche Ikonografien herstellen.

Ebenfalls am Jahr 1919 setzt der Beitrag von Jeanpaul Goergen an. Während die «Entwicklung» des Kostüms für die frühe Filmgeschichte häufig vereinfacht als lineare Abfolge erzählt wird, fächert Goergen ein geradezu wildwüchsiges Nebeneinander unterschiedlicher Kostüm- und Modepraktiken für die Filmproduktion dieser Zeit auf. Diese reichten von auffälligen Originalentwürfen für Filmstars bis hin zu Verleihangeboten von Modefirmen. Mit seiner Fokussierung auf einen Jahrgang von Film- und Modezeitschriften fördert Goergen ein dichtes Netz bislang kaum beachteter Quellen zutage, die ein lebendiges Bild damals üblicher Praktiken, Diskurse und involvierter Akteur:innen entstehen lassen – dabei tritt insbesondere auch die prominente Rolle des heute in Vergessenheit geratenen Modeschöpfers Charles Drecoll hervor.

Im Interview gibt die Gründerin des Londoner Fashion in Film Festivals, Marketa Uhlirova, Einblicke in ihre kuratorische Praxis: Ihr Interesse gelte stets Filmen, die die Art und Weise, wie wir Mode betrachten und über sie sprechen, in Frage stellen. Den Archiven als «Hütern» von Mode-Filmen komme bei der Ideenfindung für jede Festivalausgabe eine entscheidende Rolle zu.

Mit Hors-Champ (2021), einer digitalen Live-Performance der Luxus-Brand Hermès, unterzieht Bianka-Isabell Scharmann ein Beispiel aktueller Medienpraxis der Modebranche einer kritischen Analyse: Sie zeichnet nach, wie Hors-Champ verschiedene Präsentations- und Vermarktungslogiken von Modenschau, Lookbook und Fashion Film zitiert, rekonfiguriert und dabei als Format selbst eine Reihe medialer Reformatierungen durchläuft: von einer während der Pandemie als Live-Stream konzipierten Modepräsentation zu einem Video, das im Internet zirkuliert und – je nach Lesart und Kontextualisierung – als «Mitschnitt» oder «Fashion Film» geschaut werden kann. Besonders interessiert Scharmann die uneindeutige zeitliche Strukturierung der Performance, die Schwellen des Anfangens und Endens systematisch verwischt, was die Autorin in Bezug setzt zu Erfahrungsweisen des Wartens während der Pandemie.

Mode ist ein kulturelles Phänomen, das mitunter ideologische Dimensionen besitzt, wie die komparative Analyse von Sigrun Lehnert von west- und ostdeutschen Wochenschauen und ihrer Modeberichte zeigt. Die Autorin stellt sich die Frage, welche Mode in den Wochenschauen beider deutscher Staaten auf welche Weise präsentiert wurde und wie sich darin die Systemunterschiede zwischen 1950 und 1965 zeigen.

Christine Noll Brinckmann widmet sich zum Abschluss unseres Schwerpunkts in einem close reading Rainer Werner Fassbinders Fernsehspiel Martha und zeigt in scharfer Analyse, wie der Einsatz inkompatibler Kleidung der Protagonisten als vestimentäres Synonym der Geschlechterpolarisierung funktioniert und dabei gleichzeitig auf eine faschistische Vergangenheit verweist.

Den Ausgangspunkt von Henning Engelkes Beitrag innerhalb unserer Rubrik «Dispositive» bildet eine Fotografie von 1972, die Stan Brakhages Projektionsleinwand in seiner Blockhütte zeigt. Engelke entfaltet entlang dieses Dispositivs eine Neubetrachtung des Expanded Cinema jenseits eingleisiger Modelle von Medienspezifik und Moderne.

Außerhalb des Schwerpunkts spannt Matthias Brütsch den Bogen vom elisabethanischen Theater zur zeitgenössischen Fernsehserie, indem er sich dem Phänomen des Beiseitesprechens in Theater und Film widmet. Welche Möglichkeiten eröffnet die Zuschaueradressierung in unzuverlässig erzählten Filmen und Serien auf Ebene der Inszenierung und dramaturgischen Gestaltung wie auch der emotionalen Einbindung der Rezipient:innen ins Leinwandgeschehen? Der Autor geht dieser Frage anhand von Analysen der Serie Fleabag sowie der Filme Alfie und I, Tonya nach.

In Zeiten, in denen «Big Data» und (digitale) Skalierung auch in geisteswissenschaftlichen Forschungsdesigns Konjunktur haben, möchten wir mit einem kommenden Heftschwerpunkt zum Thema «Mikroanalyse – Mikrogeschichte – Mikrostudien» Methodologien des Kleinen fokussieren. Mit seinem Beitrag «Mikroanalyse: Thesen zu einem Forschungsfeld» liefert Heftherausgeber Patrick Vonderau einen Debattenaufschlag. Wir freuen uns auf Einsendungen und Anregungen zu diesem Themenschwerpunkt.

In der Rubrik In memoriam erinnert Gerd Gemünden an den kürzlich verstorbenen Filmhistoriker und Publizisten Hans Helmut Prinzler (1938–2023); Kay Hoffmann würdigt den Filmkritiker und «Kinobegeisterten » Wilhelm Roth (1937–2023).

Evelyn Echle und Kristina Köhler
(für die Redaktion)

1   tomford.com: https://is.gd/qN7tES [letzter Zugriff 21.05.2023]

2   «Digitale Luxusmode erscheint in Fortnite», 21. September 2021, online: fortnite.com: https://is.gd/JVJraG [letzter Zugriff 21.08.2023].

3   Schon allein die mitunter irrsinnig hohen Verkaufspreise digitaler Mode gemahnen, diesen Verklärungen kritisch zu begegnen. So wurde etwa die Kreation Iridescence von The Fabricant– angepriesen als «the world’s first digital-only dress» – für 9.500 US-Dollar verkauft (vgl. thefabricant.com: https://is.gd/Vg4UJC [letzter Zugriff 21.08.2023])

4   Chez le grand couturier (c. 1927) ist auf der DVD Paris – la mode (Lobster Films) enthalten.

Literatur

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